Die Malerei von Pia Fries

Paul Good

1 Wie soll man mit der unglaublichen Vielfalt des Farbigen und der Formungen in der Malerei von Pia Fries zurecht kommen? Ganz offensichtlich ist da beim Material Farbe die Hölle los. Eine unbändige Sinnlichkeit scheint sich ungehemmt auszutoben. Es macht den Eindruck, dass ein geistiges Konzept, das ordnend eingreifen würde, fehlt. Die farbige Materie wird keiner Theorie unterworfen, schon gar keiner Metaphysik oder Mystik der Farben zugeführt. Diese Malerin scheint einem Material-Fetischismus verfallen zu sein. Sie mischt alle Farben durcheinander wie ein Dämon, der die vertrauten Intervalle, Abstufungen, Kerbungen des Farbigen mit Leichtigkeit überspringt.

Es genügt, ein einziges ihrer Bilder gesehen zu haben, um für immer zwei Dinge in Erinnerung zu behalten: Da kommt ein eigenartiges Ensemble von Brüchigkeit und Leichtigkeit des Farbigen mit einer noch nie gesehenen Materialmasse daher. Man wird solche Malerei kaum auf Anhieb lieben können, weil ihre Intensität, formale Vielfältigkeit und materielle Wucht einem alle bisherigen Vorstellungen von Malerei rauben. Ist das überhaupt Malerei? So kann nur eine Frau malen, sie scheint sich an keine Spielregeln der Kunst zu halten. Es handelt sich um etwas vom Erstaunlichsten, was in den letzten Jahrzehnten in diesem Metier geschaffen worden ist.

2 Philosophisch interessiert mich nun gerade dieses Denken, das solche Bilder schafft. Ich behaupte nicht, dass Pia Fries nach einem bestimmten Denken Bilder malt. Das ist eben, wie gesagt, überhaupt nicht der Fall. Das unerhörte Ausmaß, mit welchem sie sich einer solchen Unterwerfung der Malerei unter ein Programm oder Konzept entzieht, zeichnet ihre Arbeiten ja gerade aus. Die Frage stellt sich umgekehrt: Was für ein Wahrnehmen, Empfinden, Denken muss ich aus einem solchen Schaffen ableiten, kann ich aus einer solchen Haltung heraus ziehen?

Mein Philosophieren zieht also aus dem Kunstschaffen anschaulichen Gewinn, wie dieses im nachhinein eine überraschende theoretische Begründung bekommt. Das eine existiert unabhängig vom anderen. Und plötzlich merkt man beiderseits, dass eine neue Art zu malen und das Erschaffen eines neuen Konzepts von Denken parallele Verläufe nehmen.

Es handelt sich um das Problem, wie man dem Mannigfaltigen, dem Heterogenen, dem Differentiellen überhaupt Recht geben kann, ohne es (kognitiv) unter der Einheit einer Form zu bändigen. Es geht um die Rolle, die man beim Erschaffen eines Perzepts und eines Affekts in der Kunst oder eines Konzepts in der Philosophie der Intensität, dem Zufall, dem Ereignis eines Materials gewähren kann. Ob man in der Lage ist, sich in beiden Bereichen ein Bild von der Welt zu machen, welches das permanente Werden, die ständige Verwandlung, das unendliche rhizomatische Verknüpfen von allem ins Zentrum rückt? In der Philosophie gibt es diesen Versuch seit längerem. Die französischen Autoren Gilles Deleuze und Félix Guattari liefern weitgehend das Vokabular einer solchen neuen Philosophie. Ich beziehe insbesondere ihr Kultbuch eines nomadischen Denkens, Tausend Plateaus1, in meine Überlegungen ein.

3 Pia Fries betreibt ein regelrechtes Farbwerden. Damit meine ich einerseits, dass sie aller Signifikanz der Farben, den Bedeutungen, Symbolwerten, Ordnungen derselben, Adieu sagt, und andererseits, dass sie sich auch noch der Subjektivität des Ausdrucks möglichst entledigt. Ich kann diesen radikalen Schritt nicht genug betonen. Er ist nämlich dafür verantwortlich, dass sie dem Material solche unbegrenzte Entfaltung lässt.

Die Malerin verwandelt sich in ein spezifisches Farbwerden. Man spricht etwa vom Gelbwerden bei van Gogh, vom speziellen Blauwerden von Yves Klein. In beiden Fällen ist das mit viel Form, Ausdruck und Bedeutung verbunden. Anders bei Pia Fries. Bei ihrem spezifischen Farbwerden bekommt keine Farbe den Vorzug vor einer anderen. Sie lässt alle nach allen Richtungen los. Jede wird gleichberechtigt behandelt, wird meist in hellen Tönen mit anderen zusammengeführt oder in unzähligen ad-hoc-Mischungen dort eingesetzt, wo sie gerade gebraucht wird, wo das zu schaffende Bild sie im Moment verlangt. Darin liegt schon ein ungewöhnliches Maß an Toleranz und an Indifferenz gegenüber dem Material. Diese Malerin besitzt keine Lieblingsfarbe. Sie missbraucht keine für subjektiven oder für symbolischen Ausdruck. Man muss soviel Freiheit im Herzen erst einmal aufbringen.

Sie ist so sehr die Malerin, dass sie ganz offensichtlich vernarrt ist in die Farben, dass sie nichts anderes im Sinne hat, als das Material der Farben aufs Äußerste auszureizen. Damit vollzieht sie kunstphilosophisch den Wechsel von der Einstellung, Formen in einem Material zu reproduzieren, zur Bereitschaft, ganz und gar den Strömen des Materials zu folgen. Formen reproduzieren gehört zu einem königswissenschaftlichen Konzept von Kunst, während den Strömen und Kräften sich auszuliefern ein nomadisches Verhalten darstellt. »Es geht nicht mehr darum, der Materie eine Form aufzuzwingen, sondern ein immer reichhaltigeres und konsistenteres Material zu entwickeln, das immer intensivere Kräfte einfangen kann.«2 Das wird übrigens im Blick auf so etwas wie ein ›modernes Zeitalter‹ der Künste, wenn es das geben sollte, gesagt. Der alte Begriff der Form des Bildes wird durch den Begriff der Konsistenz des Materials abgelöst.

Respektlos gegenüber jedem identitätslogischen Versuch, eine Farbe unter einer einheitlichen Substanz zu fassen und einem systematischen Gebrauch zuzuführen, wird jeder Farbe eine unendlich differentielle Behandlung zuteil. Sie wird Brüchen, Rissen, Schlägen, Häufungen, Pressungen ausgesetzt. So wird sie als ein Mannigfaltiges erschaffen, als ein ›Etwas‹, das sich permanent in sich selber wandelt und in sich selber unterscheidet. Sie erweist sich als ein Heterogenes. Solche Vielfalt wurde dem Material in der Malerei selten gewährt. Soviel Wucht, Gewalt, Zersplitterung lehrt den Betrachter schon mal das Fürchten.

4 Am Anfang steht nur eine vage Ahnung, in welche Richtung ein neuer Farbverlauf erfolgen könnte. Nach der ersten bewussten Setzung schränkt sich die Fortsetzung natürlich immer mehr ein. Pia Fries ruft nicht alle Farben gleichzeitig auf die Bühne. Und es liegt keineswegs ein blindes, wildes Drauflosmalen vor. Vielmehr ergibt ein ganz sinnliches Reagieren und Antworten des Farbigen und der Formungen aufeinander mit der Zeit ein Bild. ›Folgen‹ sagt man im Alemannischen, der Muttersprache dieser Schweizer Künstlerin, auch für ›gehorchen‹. Und ›Gehorchen‹ hat mit ›Horchen‹ etwas zu tun. Man gewinnt bei der Betrachtung vieler Arbeiten den Eindruck, die Malerin male nicht nur ganz wörtlich mit der Hand, sie scheint die Materie selber zu betasten. Alle Sinne, auch Riechen, Schmecken und Hören, sind ganz aufgeweckt.

Jede Farbe kann still oder laut wirken. Jedenfalls kann man nicht behaupten, das Visuelle regiere den Verlauf der Materialströme.

Sie verwendet überhaupt nur traditionelle Mittel oder Methoden des Malens, setzt diverse Pinsel, Messer, Spachtel, Bürsten, Eisenwerkzeuge ein, ohne industrielle technische Verfahren zu berücksichtigen. Sie verhält sich diesbezüglich sehr konservativ. Das hat mit ihrer Überzeugung zu tun, eine über 2000 Jahre alte Tradition des Malens fortzusetzen. Der Witz besteht darin, zu beweisen, dass Malerei im herkömmlichen Sinn des Tafelbildes für die Wand immer noch möglich ist. Pia Fries erbringt diesen Beweis mit einer, paradox ausgedrückt, sanften Gewalttätigkeit, dass die Spötter über die Augenkunst für einen Moment verstummen müssen. Es handelt sich bei dieser Wahl der Mittel um eine bewusste Ökonomie, Enge und Begrenzung, um auf dem so abgesteckten Spielfeld ein Maximum herauszuholen. Gemäß dem Rat des Lyrikers Paul Celan, mit der Kunst in die allereigenste Enge zu gehen und sich dann freizusetzen. Neben der Begrenzung der Mittel gehört zu dieser eigenen Enge bei Pia Fries sicher auch die spezifische Lust des spielenden Kindes, mit Gleichmut aufzubauen wie zu zerstören.

5 Die Hölle ist also auch los bei der typischen Materialbehandlung3, bei den unendlichen Formungen und Verformungen, die das Material eingeht.
Da fährt sie mit einer Materialmasse auf, die in extremen Fällen mehr als nur Relief-Charakter bekommt, die eher Anschwemmungen, Aufschüttungen, Farbblöcken entsprechen. Diese haben im Bild schon einmal den Sinn, eine Ruhezone, einen unverrückbaren Halt, eine Festigkeit oder Schwerkraft für alles andere zu schaffen, was die Farben sonst machen. Dort gibt es als benachbartes Feld nämlich auch sehr zarten, dünnen Farbauftrag, filigrane Wucherungen. Anderswo breiten sich immer mehr grundierte oder unbemalte leere Flächen aus, eine Leere, welche ein Gegengewicht zu gewissen Massen bildet, Offenheit und Weite, Transparenz und Leichtigkeit vermittelt. Dazwischen fließen die Farben oder wälzen sich in Schlangen über andere, drängen und schlingen sich ineinander, drehen und bewegen sich wie expandierende, zentrifugale Kräfte auf dem Bildträger.

Dem liegt also doch so etwas wie ein Konzept zugrunde, Farben wahrzunehmen und zu behandeln. Ich fasse es mit dem Satz: Das Mannigfaltige muss man machen. Es ist nicht so, dass in der Malerei das Mannigfaltige der Farbe, das, was ihre eigene Wirksamkeit, was ihr eigenes Können ausmacht, einfach so zugelassen oder ausgeschöpft wäre. Weil wir sie normal unter Formen, Programmen, Motiven ausreizen, bleibt ihre Wirksamkeit stets beschränkt. Farbe wird durch ein Thema in die Pflicht genommen. Pia Fries hat kein Thema. Gerhard Richter malt noch Themen. Er setzt Malerei etwa zum Ausdruck von Ironie gegenüber einem Thema ein. Sie hingegen illustriert nicht, kennt keine Ironie. Sie erlaubt rhizomierenden Farbverbindungen ein unersättliches Liebesspiel, das Kampf einschließt. Farben nähern sich einander, entfernen sich, umschlingen sich, lösen sich aus der Umarmung. Ein gewaltiger malerischer Eros reizt ständig andere Positionen heraus.

Das Begehren unterwirft sich keinem Gott, keinem Ideal. Die Malerin lässt in ihrem Herzen keinen General aufkommen.

Das Mannigfaltige muss man machen: So sehr sitzen uns noch Einheits-, Wesens-, Form-Modelle von dem, was ein gutes Bild ist, im Kopf, dass wir mit der Wahrnehmung von ständigem Wandel, vom Strömen und vom Werden der Farben Mühe bekunden. Mannigfaltig werden gehört zu einer nomadischen Denkungsund Schaffensart. Nomaden werden zwar nicht durch permanente Bewegung definiert, vielmehr etwa dadurch, dass sie stets Fluchtlinien offen halten, dass sie sich nicht an ein festes Territorium binden, keine Häuser und keine Städte bauen, nie sesshaft werden, dass sie sich nicht durch Maß und Zahl und Form in ein Territorium einkerben, sondern Rhythmen, Strömen, Kräften gehorchen, dass sie beim Wandern das Wundern nicht verlernen, wobei das Wandern oder Reisen auch eines an Ort und Stelle sein kann. Es gibt heute nicht nur die Gangs als Großstadtnomaden, es können auch Arbeitslose, Intellektuelle, Künstler, Aussteiger aller Art moderne Nomaden sein. Die Bilder dieser Künstlerin unternehmen eine Reise an Ort.

6 Wann ergibt das losgelassene, enthemmte Farbmaterial ein Bild? Wann ist ein Bild sozusagen fertig? Das Ende bleibt seltsam offen. Natürlich steht zuletzt, bei allem Aufbauen und Zerstören, ein erstaunlich schönes Bild da. Der Betrachter wird selber mannigfaltig geworden sein, sich in die Details verloren haben. Dennoch hat er nicht Flecken und Löcher, nicht Haufen und Ströme, sondern ein Bild gesehen. Was beendet eine Arbeit?

Die Überzeugung, dass die Farben hinlänglich auseinander laufen und dabei doch zusammen wirken, ausgiebig Plätze besetzen und Leerstellen zulassen, aufbauen und abbauen. Wenn sie miteinander bei aller Mannigfaltigkeit die Ausgewogenheit eines Gleichgewichts erreichen.

Ich bin an Heraklits schönste Harmonie erinnert, die in gegenwendiger Strömung und Spannung besteht. »Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie.« Heraklit ist ein Philosoph des Werdens par excellence.

Die Mischungen, Verzweigungen, Vernetzungen bilden mit den Brüchen, Rissen, Schnitten Plateaus. Jedes Bild erstellt ein Plateau. Ein Plateau ist »eine zusammenhängende, in sich selbst vibrierende Intensitätszone«. Das könnte die Definition von Bild dieser Künstlerin sein. Diese Intensitätszonen werden durch Rhythmen des Materials mehr als durch Formen hervorgebracht. Rhythmus ist der Nomos einer nomadischen Oberfläche, eines ›glatten Raumes‹ im Unterschied zu Form, Maß, Zahl, welche den Logos des ›gekerbten Raumes‹ der Sesshaften bilden.

Ich muss mich weiter fragen: Auf welches Kriterium hin ergibt das Strömen des Farbmaterials ein intensives Bild? Da waltet nicht Chaos oder Beliebigkeit, wo kein einheitlicher Formwille herrscht. Es muss dann ein Kriterium wirksam sein, das aus dem Mannigfaltigen selber stammt und mit ›Kraft‹ zu tun hat. Die Künstlerin spricht selber gern von »Aufrichtekraft«. Ein Bild ist dann fertig, wenn das Ganze eine ›Aufrichtekraft‹ ausstrahlt.

Dieser Ausdruck erinnert an die Vertikale bei Alberto Giacometti. Aber bei Pia Fries hat er nichts mit formalem Aufrichten oder vertikalem Ausrichten von Farben, mit Unterwerfung derselben unter ein strammes Ziel zu tun. Die Kraft des Aufrichtens wird dort deutlich, wo, wie Maler sich gern ausdrücken, das Zusammenspiel der heterogenen Teile ›hält‹, ›stimmt‹, ein gewisses Gleichgewicht erlangt. Es geht um jene vibrierende Intensität des Farbigen, welche zugleich Stärke und Gelassenheit, ›Biss‹ und Leichtigkeit verrät. Malerei, die ebenso erfreut wie bedrückt. Farben, die leuchten und verlöschen.
Das Kriterium muss sich aus dem Mannigfaltigen selber ergeben. Kinder können hemmungslos Farbkombinationen erstellen, da fehlt etwas Gelb, dort braucht es ein wenig Rot. Siehe da, am Ende kommt so etwas wie ein Bild heraus. Unglaublich, wie tolerant Farben gegenüber Farben sein können, dass kein Chaos, sondern ein Bild entsteht. Derart befreit aufspielende Farben lassen so manche erfolgreiche Malerei alt aussehen.

Das Kriterium für das, was das Gefüge eines Bildes sein kann, kommt jedenfalls zum Material in diesem Fall nicht von außen hinzu, von einer Ästhetik oder Metaphysik der Kunst, sondern muss sich jeweils von Bild zu Bild aus dem Mannigfaltigen selbst ausdifferenzieren. Es handelt sich dabei um eine empirische Verträglichkeit des Mannigfaltigen. Eine Idee von Bild schwebt nicht darüber wie das Auge eines allmächtigen Wächters. Die Arbeit an der Empfindung als der eigentlich ästhetischen Arbeit gilt bei Pia Fries dem Empfindungsblock von gebändigter Kraft, die nichts ausschließt. Spannungsgeladen muss eine Malerei sein, mannigfaltige, gegenwendige Kräfte vereinigen. Ein Heterogenengefüge muss entstehen. ›Gefüge‹ meint die Konsistenz des Heterogenen.

Dem schließe ich die Überlegung an, dass genau dieses interne Kriterium, diese empirische Verträglichkeit des Mannigfaltigen, die Verbindung dieser Malerei zur global total vielfältig gewordenen Welt von heute herstellt. Jetzt, wo die größte Einheit der Welt erreicht ist, springt das Mannigfaltige, das Heterogene, das Differentielle am deutlichsten, oft schmerzlich heraus und wehrt sich gegen die Unterwerfung unter eine einzige Identität. Kunst bildet diese Mannigfaltigkeit nicht ab, sondern realisiert im Material Farbe eigene Heterogenengefüge, welche dieser bunten Welt entsprechen können. Nietzsche sprach schon von einer Stadt, die man die bunte Kuh nannte.

Farben, die sich selber differenzieren. Könnte es einen höheren Sinn derselben geben, als sich nach allen Richtungen zu befreien, zu behaupten? Ist das nicht der wichtigste Schritt einer Malerei zu sich selbst?

Ohne einem Programm unterworfen zu werden, keiner Transzendenz und keinem Absoluten Ausdruck geben zu müssen, sondern ganz immanent nur sich selber werden zu dürfen? Bei Pia Fries ist die unendliche Immanenzebene des Farbigen weit aufgetan worden. Nicht transitiv
›etwas‹ malen, ein Thema, sondern Farben intransitiv ausreizen, dass es nur so kracht, wie eine Redewendung vom Vielfältigen lautet.

7 Ich muss diese Fröhliche Wissenschaft des Malens im Blick auf ihre Verfahren noch etwas genauer betrachten. Ich bin nach wie vor mit Worten hoffnungslos überfordert, das unerhört Mannigfaltige dieser intensiven Plateaus adäquat auszudrücken, die dieses spielerische, verträumte, jugendliche, gesunde, kräftige, freche, erotische Ausreizen und Ausbalancieren des Farbigen zu Tage fördert. Farbereignisse folgen auf Farbereignisse, Überraschungen auf Überraschungen. Details führen in einer Bildecke ein Eigenleben, als wären sie selber schon ein ganzes Bild, und schwingen doch wie die einzelnen Instrumente und Stimmen eines Orchesters mit anderen Details zu einem nach allen Seiten hin offenen Gefüge zusammen.

Unwillkürlich verlangen diese Bilder dem Betrachter selber ein wanderndes Sehen ab. Der Blick haftet an gewissen Splittern, Flecken, Häufungen, Verläufen des Farbigen, wechselt zu anderen Inseln, Kerbungen, Strömen, Leerstellen, um völlig perplex festzustellen, dass so heterogene Gebilde doch ein Bild ergeben. Man gewahrt umgekehrt dieses spannungsvolle Gefüge natürlich auch unmittelbar und durchwandert die Details erst nachher. Wie immer man verfährt, es drängt auseinander und fügt sich doch zusammen.

Das muss sicher auch daran liegen, dass hier durchgehend ein haptisches eher als ein visuelles Malen vorliegt. Das Material wird häufig dicke aufgetragen, wird direkt auf den Bildträger gedrückt, gepresst, geschlagen, selten gespritzt. Wo fließende Streifen entstanden sind, dort wurde der Bildträger auf den Boden aufgeschlagen, damit locker hingeworfene Masse sich von selber in Bewegung setzte und verteilte.

Dieser generell haptische Umgang mit Farben führt ähnlich wie bei der Handschrift des Briefschreibers rhythmische, dort, wo etwa Malrechen zum Einsatz kamen, sogar strukturelle Bewegungen herbei.
Die ewige Formdebatte in den Bildenden Künsten gehört zum Primat des Visuellen in ihnen. Fällt dieser Primat dahin, bekommt eben der Rhythmus der Hand die Aufgabe des Zusammenhalts, der hinlänglich in der Art eines Ritornells ein Geflecht erstellt. Damit ist das Visuelle nicht völlig außer Kraft gesetzt. Das visuelle Begehren übernimmt nun seinerseits die Regie über Farben: Da muss ein Stück Blau her, dort braucht es eine leere weiße Stelle. Farben begehren einander wie Vögel im Ritornell des Begehrens zwitschern. Das betrifft auch Gewichte und Geschwindigkeiten. Auf eine dichte antwortet eine dünne Stelle, auf eine volle eine leere, auf eine laute eine stille, auf eine eckige eine gebogene, auf eine geschlossene eine offene Stelle. Das Material lässt alles mit sich machen und verträgt sich bestens in tausend intensiven Variationen auf einem einzigen Plateau. Dass Bewegungen und Geschwindigkeiten in die Farben kommen, dass Verlangsamungen und Beschleunigungen stattfinden, stellt ein entscheidendes Element dieser oft unbequemen, weil unerwarteten Farbverläufe im glatten nomadischen Raum der Farbe dar.4

Ein weiterer Gesichtspunkt, der aus dem Mannigfaltigen ein Bildgefüge entstehen lässt, liegt in der nicht selten unbestrittenen Andeutung einer gegenständlichen Organisation des Bildes. Häufig greift etwas hinüber zu einem anderen, dringt etwas in ein anderes ein, etwas streckt sich, etwas höhlt sich, Akt-Begegnungen scheinen manchmal Farbwahl und Farbrhythmus zu bestimmen. Ich habe bereits auf geologische Erosionen und Aufschüttungen hingewiesen. Der plastische Farbauftrag erzeugt unweigerlich den Eindruck von Sedimentationen, Landschaften, Plätzen, Höhlen, Fruchtständen, Organen und entsprechenden botanischen und zoologischen Längsund Querschnitten, Rissen und Fragmenten. Der dicke, rauhe Farbauftrag gibt dem wandernden Blick des Betrachters Halt, lässt etwas hervortreten, schafft Volumen, fordert zu räumlichem Sehen auf. Flächige Partien tragen das ihre dazu bei.

Auch darin vervielfältigt sich diese Malerin, dass sie sich trotz des Bekenntnisses zur ›abstrakten Malerei‹ der gegenständlichen Illusion des farbigen Materials nicht entzieht. Diese steht ihr nicht im Wege, die Ströme und Kräfte der Farben auszureizen. Sie muss sie nicht ausschließen. Im Gegenteil, die Natur liefert ihr unendliche Anregungen, mit dem Farbmaterial entfernt parallel zu den dort waltenden Kräften und Formationen zu verfahren. Trotzdem bleibt das ungegenständliche Malerei, die nichts illustriert, sondern Wirksamkeit von Material im mannigfaltigen Miteinander erprobt. Gegenständliche Anspielungen kommen gerade recht, um neue Konsistenzverhältnisse zu schaffen.

Die üppige Malweise wirkt heftig, ohne expressiv zu sein. Sie zerbricht, ohne aufzuwühlen. Sie verletzt, ohne gewalttätig zu sein. Sie wirkt rauh, ohne grobschlächtig zu werden. Der Empfindungsblock (Affekt) läuft, was die ›technische Komposition‹, nämlich die Arbeit am Material betrifft, auf etwas hinaus, das ich als Dekoratives im ähnlichen Sinne bezeichnen möchte, wie es bei der Malerei von Matisse ganz positiv gewürdigt worden ist.5 Farben wirken per se dekorativ. Diese Künstlerin beweist sich geradezu als Jongleurin, so viele dekorative Elemente auf einmal zum Tanze zu bitten.

Es liegt darin vielleicht eine gewisse Gefahr, aufgrund der Variationen (Pia Fries spielt gewisse Verfahren in Gruppen durch, wobei es sich um Variationen und nicht etwa um Wiederholungen handelt) manieriert zu wirken. Dave Hickey nennt den Stil von Pia Fries »visceral rococo«6, Eingeweide-Rokoko. Warum nicht? Man muss nur genauer hinschauen und die einzelnen vibrierenden Intensitäten durchlaufen, um diese Gefahr des Manierierten schnell zu bannen. (Für mich bekommen eher strukturelle Rechenbewegungen in einigen Beispielen den Charakter einer Manier.) Der Gesamteindruck der Bilder erscheint im besten Sinn von dekorativer Oberfläche des Materials als immanent ästhetisch.
Die positive Würdigung des Dekorativen beruht auf der Erkenntnis, dass für nomadisches Kunstschaffen alles erlaubt ist, was sich auf der unendlichen Oberfläche des farbigen Materials zu Tage fördert oder angeschwemmt wird. Der Sinn von radikal materialgerechter Malerei steckt nicht in der Tiefe der farbigen Elemente (in sogenannten Farbengesetzen), wie er auch nicht in der Höhe der formalen Ideen (in ewigen Formen oder Symbolen) liegen kann, die quasi darauf warten, bebildert zu werden. Nein, der Sinn zirkuliert an der Oberfläche der farbigen Ereignisse und Wirkungen dieses Materials, die weiter nichts bedeuten als deren eigene Intensität. Diesen Strömen zu folgen, diese vibrierend auszureizen, ergibt in diesem Falle Kunst.

8 Man hat schon früh von einer »Malerei des irdischen Glücks« gesprochen, welche »ihre Herkunft aus dem ungestalten Brei des Amorphen nicht leugnet«7. Der Ausdruck »Brei des Amorphen« entstammt dem metaphysischen Form-Materie-Bild, wonach eine formlose Materie durch Form erst Gestalt gewinnt, er trifft nicht zu auf das Rhizombild von den wirksamen Kräften und Strömen der Materie, das dieser Malerei des Mannigfaltigen zugrunde liegt, die dem Verlauf derselben Recht gibt. Ein ›irdisches Glück‹ springt allerdings allemal aus solcher Autonomie des Materiellen heraus. Diese Malerei unterwirft sich keiner Transzendenz. Insofern gibt es für sie auch keinen Sündenfall. Sie stellt sich nicht mehr in den Dienst von Form und Repräsentation, von Referenz und Abbild der Welt. Sie erstellt stattdessen Karten. Sie kartographiert Kräfte. Die Karte unterscheidet sich von der Kopie der Welt dadurch, dass sie »ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist«.8 Genau das tut Pia Fries bei der Farbe.

Wenn man jetzt fragt, was hat solche Malerei mit der zerstrittenen globalisierten Welt von heute zu tun, dann habe ich schon angedeutet, dass sie mit bloßem Farbmaterial genau ein Differenzund Heterogenengefüge erschafft, wie auch die wirtschaftlichen, politischen, sozialen, religiösen Ströme eines darstellen, deren Konflikte die Welt gerade austrägt. Diese Bilder bilden diese nicht ab, thematisieren sie nicht. Sie liefern mit Mitteln der Malerei keine Kopie, sondern erstellen eine Karte davon, wie Kräfte zusammenspielen können.

Ich würde deshalb nicht so weit gehen wie der amerikanische Autor Dave Hickey, der in diesen Bildern »ein unsentimentales Erinnerungsstück an den zerstörten Planeten« und »die europäischsten Gemälde ›nach amerikanischer Art‹« erkennen will. Das Amerikanische darin sehe ich im Loslassen des Mannigfaltigen, im Aufbrechen der Formen, im Überschreiten der Grenzen, wie das in der großen angloamerikanischen Literatur von Melville bis Fitzgerald praktiziert worden ist. Stilistische Nähe zu amerikanischen Bildern wie Rauschenbergs ›Combines‹ gibt es sicher auch. Jedoch der symbolischen Deutung als Memento für die Schönheit einer völlig zerstörten, ausgebeuteten, kaputten, verlassenen Welt, als Bild derselben nach dem Untergang der Menschheit, muss man nicht folgen. Schon aus dem simplen Grunde, weil man sie nicht symbolisch lesen muss. Ich sehe in der unerhörten Verträglichkeit des Gegenwendigen vielmehr eine Welt, in der jedem Mitspieler Würde und Wirksamkeit zuteil wird.

9 Pia Fries spielt tatsächlich das kleine freche Mädchen in der Malerei, das sich von nichts einschüchtern und einschränken lässt, was die ernsten grauen Malerfürsten an Idealen und Grenzen in der Gegenwart aufgerichtet haben. Man wirft ihrer Malerei schnell vor, in diesem Bildbegriff finde sich wenig selbstkritische Bildreflektiertheit. Sie erlaube sich, naiv experimentierend einen glatten Raum des Farbigen zu eröffnen und zu durchlaufen, ohne Ironie und Scham auszubreiten, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Kunst. Das übermütige Kind pfeift auf die Regeln des gekerbten Raumes bisheriger moderner wie postmoderner Malweise und Manier. Insofern fehlen ihm tatsächlich die Manieren. Sie bereitet sich ein Material auf, das immer intensivere Kräfte einzufangen erlaubt. Wie ich deutlich gemacht habe, tut sie das nicht naiv, sondern geradezu mit einer Bedächtigkeit und Überlegtheit, diesem Material Ströme und Ereignisse abzuringen.

Es gibt bei dieser Malerin allerdings einen Œuvreteil, der sich noch stärker als sonst mit selbstkritischer Bildreflektiertheit befasst. Ich muss ihn deshalb erwähnen, weil er eine sehr bewusste Auseinandersetzung mit der Form darstellt. Aber auch deshalb, weil er das Bild als Oberfläche und das dekorative Element der Malerei nochmals betont. Es handelt sich um jene Gruppen, bei welchen Druckvorlagen und Siebdrucke auf den Bildträger gesetzt worden sind und wo dieser absichtlich unbemalt seine nackte Holzmaserung auch als Bildelement zeigt. Dieser Einbezug von Graphik wie auch der Farbe Schwarz in der Malerei veränderte diese stilistisch und atmosphärisch. In beiden Punkten bin ich manchmal an eine kubistische Bildund Farbauffassung etwa von Juan Gris erinnert, nur dass die Arbeiten von Pia Fries viel offener, lebendiger und leichter wirken.

Da ist einmal die Reihe der Leningrader Aquarelle. Der Name stammt von den Werken, die Maria Sibylla Merian (1647–1717) zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Blumen und von Getier peinlichst genau nach Naturvorlage gemalt hatte. Pia Fries reißt die Faksimile ihrer berühmten Kollegin respektlos durch und klebt Bruchstücke davon direkt auf die Holzplatte. Schon dieses Zerreißen bedeutet Distanznahme zur Vorlage. Das Bildverständnis ist heute ein anderes als vor 300 Jahren. Sodann wird die bewusste Setzung eines Fremden, das als figuratives und dekoratives Fragment willkürlich gedreht auf den Bildträger montiert wurde, nur dazu benutzt, mit Farbe auf diese fremde Vorgabe zu reagieren. Es entstanden dabei auch stark graphisch wirkende Bilder, die der Vorlage eine schöne Referenz erweisen. Auch hierin bekundet sich beides, Ablehnung und Respekt.

Viel deutlicher gegen die starre Form arbeiten jene Malereien, welche Siebdrucke aus Merians Musterbuch Flowers, Butterflies and Insects, 1713–1717 in Amsterdam erschienen, als Ausgangspunkt verwenden, um diese zu konterkarieren. Eine Blume bewegt sich im Wind, sie verändert sich, sie macht etwas mit dir. Das alles ist in Merians formgetreuen Stichen nicht enthalten. Der Schmetterling legt Eier, daraus Raupe und erneut Schmetterling werden. Maria Sibylla Merian wollte in Details gerade diesen lebendigen Kreislauf zeigen, bannte ihn jedoch in tote Formen. Die abbildende Form eignet sich nicht dazu, diese Metamorphose zu verkörpern. Für Pia Fries soll das Bild diese Metamorphose selber sein.

Und so schwemmt sie bei den musselin-Gemälden ganze Farbströme gegen die Rastermuster, welche als Siebdrucke von Musselins auf das nackte Holz gesetzt wurden. So findet im Bild eine Reflexion auf den durch Formen und Raster gekerbten Raum und den durch Energieströme und Geschwindigkeiten energetisch glatten Raum der Malerei statt. Wo neuerdings Fotos von Stapeln eigener Bildträger für Siebdrucke verwendet wurden und als entschieden räumliches Element in die Bilder eingreifen, da wird die Bildreflexion noch um einen ähnlichen Schritt wie einst das eigene Atelierund Bildzitat erweitert.
Dieses Beispiel zeigt aber auch, dass Pia Fries lineare, geometrische Formelemente nicht ausschließen muss. Wo sie auftreten, mobilisieren sie jedoch gleich Gegenkräfte. Territorialisierende Elemente fordern deterritorialisierende Kräfte heraus. Die Drucke dienen als Hindernis, das überwunden werden muss. Ein Widerstand wird aufgebaut, daraus sich das Neue entwickeln kann. Das Bild im Bild als Verfahren kann bei jeder Gruppe des Mannigfaltigen auf einem Gemälde leicht ausfindig gemacht werden. Die alte Trennung von Ganzem und Teil wird obsolet.

Pia Fries weitet das Vokabular der Malerei so weit wie möglich aus. Sie will mit ihr verschiedene Sprachen sprechen. Sie will das Terrain wechseln können. Flächige, graphische Elemente werden durch Farbe, die aufsteht, plastisch weiter entwickelt. Eine dicke Farbmasse wird mit dem Rechen linear aufgelockert, gekerbt. Derart werden die bildnerischen Elemente im Detail immer bewusst und reflektiert eingesetzt.

Malen bedeutet, Konventionen aufbrechen.

Zum Schluss möchte ich noch den Bildtitel stratum (2006) erwähnen, der direkt auf Schicht und Plateau verweist. »Strata sind Phänomene der Verdichtung auf dem Körper der Erde. Sie sind zugleich molekular und molar: Ansammlungen, Gerinnungen, Ablagerungen und Faltungen: Gürtel, Zangen oder Gliederungen.«9 Ein solches Verdichten, Ansammeln, Gerinnen, Ablagern, Falten, so dass Gürtel, Zangen, Gliederungen entstehen, geschieht hier mit dem Material Farbe. Jedes Bild, von bisherigen Sinn-Konventionen des Kunstschaffens befreit, gibt Einblick in ein Plateau vibrierender Intensität. »Nur wenn die Materie genügend deterritorialisiert ist, tritt sie molekular auf und lässt reine Kräfte zum Vorschein kommen, die nur noch dem Kosmos zugeordnet werden können.

Das war bereits ›zu allen Zeiten‹ so, aber unter anderen Wahrnehmungsbedingungen.«10 Deterritorialisierung und Molekularisierung des Materials sind der direkte Weg zu den Kräften.

  1. Paris 1980, dt. Übersetzung Berlin 1992.
  2. Ebenda, S. 449.
  3. Von Typik und Variation, von Erinnerung und Gewohnheit muss man allerdings sprechen, wenn man eine größere Zahl Bilder von Pia Fries beieinander erblickt. Sie be sitzen zweifellos einen unverwechselbaren ›Stil‹.
  4. Glatter Raum der Farbe meint keine glatte Malweise, sondern die formale wie materielle Offenheit der farbigen Ströme, die noch keiner Moral oder Ästhetik unterworfen worden sind. Glatt ist nicht gleich homogen. Der gekerbte Raum ist durch Punkte definiert, die über die Linie regieren, während der glatte Raum aus lauter Linien besteht, die Vektoren sind (Ströme, Kräfte).
  5. Vgl. G. Boehm, »Ausdruck und Dekoration. Henri Matisse auf dem Weg zu sich selbst«, in: Henri Matisse: Figur, Farbe, Raum. Ostfildern: Hatje Cantz, 2005, S. 277— 279.
  6. pia fries: schwarzwild. London: Bernard Jacobson Gallery, 2006, S. 9; dt. in der vorliegenden Publikation S. 130.
  7. Max Wechsler, in: Pia Fries, Luzern: Kunstmuseum 1992, S. 37.
  8. G. Deleuze u. F. Guattari (wie Anm. 1), S. 23/24.
  9. Ebenda, S. 696.
  10. Ebenda, S. 473.