Zur Kunst von Pia Fries seit ihren Anfängen
Pia Müller-Tamm
I.
Wer die seltene Chance hatte, Pia Fries bei der Arbeit im Atelier zu beobachten, oder entsprechende Filmsequenzen ansehen konnte, wird ihre Kunst von da an anders betrachten. Denn diese Malerei mit ihren komplizierten Feinstrukturen und elaborierten Gradationen von Farben und Linien erscheint zunächst alles andere als kultiviert, raffiniert und ausbalanciert. Sie verdankt sich einer beinahe rabiaten Arbeit mit den künstlerischen Mitteln, der materiellen Unterseite aller Kunst. Die Farbe, ihr Leitmedium, tritt hier satt und feucht glänzend in unterschiedlichen Aggregatzuständen in Erscheinung. Von polymorpher Masse bis zu dünnflüssiger Substanz wird sie in kombinatorischen Verfahren eingesetzt: im Schleudern von Farbbatzen, im schnellen Verrühren mit dem Rechen, im Quetschen mit der Presse oder dem Spachtel, im Aufschlagen des ganzen Bildkörpers auf dem Fußboden, um die zähe Farbmasse kontrolliertzufällig in Bewegung zu versetzen. Das Zerschneiden der Farbhaut zählt ebenso zu ihren Verfahren wie das Abkratzen oder das Ausstechen dicker Farbschollen, um tieferliegende Schichten freizulegen. Zweifellos stehen wir hier einem künstlerischen Werk gegenüber, das schon im Werkprozess den modernen Maximen der Reinheit und Einheitlichkeit eine deutliche Absage erteilt. Einen Zugang zu ihrem Tun scheinen wir eher im Umfeld surrealistischer Experimente mit dem Abjekten und den Verwertungsformen der Aleatorik zu finden. In jedem Fall ist der Weg von der physischen Aktion, vom »Machen« zum sichtbaren und stabilen künstlerischen Ergebnis bei Pia Fries ein vielstufiger Prozess – nicht nur im konkreten Fall eines jeden Werkes, sondern auch mit Blick auf die Entwicklung ihrer Kunst in den letzten zwanzig Jahren. Dass hier nicht »alles möglich« ist, sondern durchaus Konsequenz sichtbar wird, mag der Blick zurück erweisen: auf die künstlerischen Anfänge und das allmähliche Sich-Herausbilden einer neuen Bildform, für die Pia Fries heute bekannt ist.
Das Frühwerk der Künstlerin folgt keiner linearen Struktur, es macht eher einen »Fächer« von unterschiedlichen Interessensfeldern auf. Mit jedem ihrer Werke setzt sich Pia Fries gleichsam eine neue Aufgabe und sondiert dabei all jene Themen, die sich in den folgenden zwanzig Jahren in veränderter Form wieder in ihrem Werk einfinden. Die Passage durch das Frühwerk muss Ende der siebziger Jahre, in der Zeit ihres ersten Kunststudiums an der Kunstgewerbeschule Luzern, beginnen. Steinhaus von 1979 [ Abb. 1 ] gleicht einer propädeutischen Übung im dualen Sehen. Die Arbeit besteht aus einem Marmorblock, der zwei unterschiedliche Formen der Bearbeitung zur Schau stellt: auf der einen Seite der grob behauene Stein, der den Charakter des Materials sowie die Spuren seiner Bearbeitung hervorkehrt und dessen Volumen ein giebelständiges Haus andeutet, auf der anderen Seite die geschliffene quadratische Marmorfläche, die als Träger der perspektivischen Ritzzeichnung eines Hauses dient. Hier ging es der Künstlerin um die dualen Prinzipien von Fläche und Tiefe, Zeichnung und Volumen, Linie und Masse, von glatt und rau, optisch und haptisch, von Betrachterorientierung und Allansichtigkeit, um Illusion und physische Präsenz.
1980 wechselte Pia Fries an die Düsseldorfer Akademie. Die Dominanz der Maler unter den Professoren führte für die angehende Bildhauerin zunächst zu einer »großen Verunsicherung«, zur »Erschütterung in den Grundfesten«.1 Schwimmerin von 1981 [ Abb. 2 ], eine Acrylmalerei auf Bettlaken in den monumentalen Maßen von 140 × 200 cm, war ihre Abschlussarbeit in der Orientierungsklasse. Sie zeigt eine homogene weiße Fläche mit der Darstellung einer perspektivisch stark fluchtenden weiblichen Figur mit weit ausgreifenden Armen. Die dünnflüssige Farbe in antinaturalistischen Blautönen für das Inkarnat verleiht der Figur offene, ausblutende Konturen. Das aquarellartig fluide Medium korrespondiert mit dem Sujet der Schwimmerin. Aber der Illusionismus der Darstellung wird durch den fehlenden Kontext der Figur gebrochen bzw. ihre Erscheinung durch die Fusion zweier konfligierender Flächen erzeugt. In der Verbindung des Inkompatiblen, der perspektivischen Tiefe der Malerei und der Flachheit des Lakens, artikuliert Pia Fries erstmals die Figur-Grund-Thematik, die syntaktische Grundlage aller Malerei. So unterschiedlich Steinhaus und Schwimmerin erscheinen, sie verbindet die Gleichzeitigkeit von gegenstrebigen Prinzipien in einem Werk und deutet damit eine Tendenz zur Auflösung von Eindeutigkeiten, zu hybriden Bildformen an.
In ihrer Werkgruppe Vögel von 1982 [ Abb. 3 und 4 ] organisiert Pia Fries die gesamte Leinwand mit Farbe, aber die Bilder mit Kolibris und Papageien in exotischen Farben sind dennoch keine naturalistischen Darstellungen. Spürbar scheint vielmehr das Interesse der Künstlerin an einer Malerei, die den Gegenstand zwar nicht verleugnet, sich aber nicht im Sinne einer malerischen Widerspiegelung auf ihn einlässt. Ihr geht es nicht um die Annäherung an die materielle Erscheinung von glänzendem Gefieder oder stumpfen Schnäbeln, viel eher um die Herstellung einer Ordnung, die keinen Konflikt zwischen Realitätsbezug und Abstraktion zulässt, die im Gegenteil das Fehlen eines solchen Konfliktes voraussetzt. Hier wird man die Bedeutung ihres Lehrers Gerhard Richter für Pia Fries’ frühe Orientierung veranschlagen müssen. Denn das Exerzitium der Vögel entstand im ersten Jahr ihres Studiums in der Richter-Klasse; dort wurde die Werkgruppe während des Akademierundgangs 1982 gezeigt.
Bekanntlich entfaltet sich Gerhard Richters Werk seit den sechziger Jahren in mehreren umfangreichen, deutlich artikulierten Werkreihen. Einander scheinbar ausschließende Darstellungsmodi und Sujets werden seither souverän nebenund gegeneinander gestellt. Offengelegte Widersprüche und Dissonanzen bestimmen das geistig-künstlerische Profil seines großangelegten Œuvres. Dabei lassen sich zwei Pole seines Schaffens aufeinander beziehen: die realistischen Fotobilder und die großen Abstraktionen, die seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre entstehen. Die materialgesättigten, überaus farbintensiven abstrakten Bilder verdanken sich einer komplexen Schichtenmalerei, bei der oft extrem widersprüchliche malerische Elemente miteinander kombiniert werden. Die Arbeit mit Rakeln, Pinseln und Spachteln, Verfahren des Zufalls und der Kontrolle führen zu einer kolossalen Dramatisierung der Bildfläche. Richters Verweigerung, einen definitiven Stil zu entwickeln, sein Insistieren auf dem kontinuierlichen Wechsel, auf dialektischen Umschlägen und produktiven Brüchen hat dem Malerei-Diskurs in den siebziger und achtziger Jahren eine neue konzeptuelle Basis verschafft und dürfte auch für Pia Fries modellhaft gewesen sein. Dass ein Werk gleichzeitig monochrom, gegenständlich, figurativ, abstrakt und realistisch sein kann, dass sich gleichzeitig alle begrifflichen Zuweisungen durch die Gültigkeit des Gegenteils relativieren, musste für die Studierenden als eine nicht mehr hintergehbare Begründung des Piktoralen gelten.
Einerseits weist Richter eine semantische Lesart, die die Bedeutung der Bilder vorrangig in den dargestellten Gegenständen sucht, entschieden ab; andererseits will er die Malerei nicht selbstreferentiell auf die Mittel ihrer Darstellung reduziert wissen. Eine solche Haltung, die die Aporien der Moderne aufscheinen lässt, wird man bei Pia Fries eher unterschwellig antreffen, als dass sie explizit formuliert wurde. Ihre Werkgruppe O. T. von 1985 [ Abb. 5 und 6 ] kann aber, indem sie die in der Werkgruppe der Vögel angestimmte Thematik wiederaufnimmt, als Hinweis auf ihre weitergehende Beschäftigung mit dem Verhältnis von Gegenstand und dessen Verweigerung gelesen werden. O. T. [ Abb. 5 ] zeigt dichte malerische Texturen auf der gesamten Bildfläche von 110 × 80 cm. Die kleinteilig-rhythmisch verwobene Farbe hat scheinbar keinen Bezug zum gegenständlichen Motiv. Aber die eingehendere Betrachtung erweist, dass die Ordnung der Farbe doch nicht ohne gegenständlichen Anlass auskam; das Motiv – der Kopf eines Papageis – ist gleichsam verborgen im Bild vorhanden und entbirgt sich nur, wenn die Wahrnehmung ein Umschalten vollzieht: vom fokussierenden Sehen der bedeutungslosen einzelnen Farbflecken auf die distanzierte Wahrnehmung des gesamten Bildfeldes, die aus den Teilen einen motivischen Zusammenhang entstehen lässt.
Optische Inversionen – Pendelschwünge der Wahrnehmung zwischen flächen- und gegenstandsbezogenem Sehen – interessierten Pia Fries auch in der Arbeit Ornament [ Abb. 7 ] von 1984. Schon der Titel des einundfünfzigteiligen Werkes gibt einen Hinweis auf das Bezugsfeld, in dem die Künstlerin ihre Untersuchung ansiedelt: Sie handelt vom Ornamentalen, der formgewordenen Differenz von Figur bzw. Muster und Grund, die eine »kulturelle Universalie«2 darstellt. Im Ornamentalen wird das Gesamtspektrum moderner und nach-moderner Kunst berührt; es war Katalysator für epochale Entwicklungen im Bereich der autonomen wie der angewandten Kunst. Dies hängt mit zwei Entwicklungstendenzen der Moderne zusammen: mit dem Phänomen Fläche bzw. Wand als Thema künstlerischer Gestaltung und mit dem Verzicht auf den Gegenstand, an dessen Stelle hochformalisierte abstrakte Zeichen traten. Durch das Ornamentale erhielt die Kunst der Moderne – wenn auch indirekt und chiffriert – sowohl ein neues Formenrepertoire als auch einen neuen, überindividuellen Bedeutungssinn.
Im Ornamentalen als einem historisch abgeleiteten, retrospektiven methodischen Mittel erfuhr die einseitige Fortschrittsdynamik der Avantgarde »ihre dialektische Korrektur«.3 Das Ornamentale war insoweit in der Lage, die geschichtliche Dimension der Moderne zu thematisieren. Diese Einsicht ermöglichten allerdings erst die Diskurse der sog. Postmoderne. Anders als die Pioniere der abstrakten Kunst sahen die Maler der Postmoderne keine unvereinbaren Gegensätze mehr zwischen Ornament und Abstraktion, sondern eine fruchtbare Dialektik von Bruch und Versöhnung.4 In den ornamentalen Strukturen der Kunst der achtziger Jahre wurde die geschichtliche Situation der Nachmoderne reflektiert, d. h. das Ornamentale erhielt in der Wendung gegen die utopischen Ideale der Moderne eine zeitsymptomatische und zeitkritische Bedeutung.
Pia Fries hat in der Arbeit Ornament ihre spezifische Formulierung für das Figur-Grund-Thema entwickelt und dabei dem Spiel mit den Phänomenen gegenständlich/ungegenständlich eine neue Pointierung gegeben. Jede der 51 Zeichnungen zeigt zwei stilisierte Vögel mit Körpern im Weiß des Papiertons und schwarzen, zum oberen Blattrand hin geschwungenen Schweifen. Durch die symmetrische Anlage der Blätter ergeben sich amphorenartig geformte Zwischenbereiche, die die Künstlerin mit dichten Netzen von Grafitstrichen gefüllt hat. Diese ungegenständlichen Zwischenzonen sind wie die stilisierten Vögel vexierbildartig eingesetzt. Man kann die Zwischenfelder als dunkel konturierte Figuren vor weißem Papiergrund lesen oder als den Vögeln nebengeordnete Bildelemente. Der erste Blick auf die Gesamtheit der Bilder, die von der Künstlerin in Dreierreihen übereinander präsentiert wurden, lässt den Eindruck einer ornamentalen Struktur entstehen, der jedoch unmittelbar durch die vergleichende Betrachtung der Einzelblätter widerrufen wird. Denn tatsächlich formuliert jedes der Blätter eine individuelle Lösung; kein Blatt gleicht dem anderen. Pia Fries geht es hier also offensichtlich mehr um die Irritations- und Unruhemomente als um das Gleichmaß einer sich wiederholenden Struktur. Die Aneignung des Ornaments als kritische, konzeptuelle Form oder als methodisches Potential zur Erneuerung der Malerei, wie sie in den achtziger Jahren zu einem Schlüsselthema der Malerei wurde, wird man bei Pia Fries eher nicht finden. Denn sie verzichtet auf den zeittypischen Anspruch, im Ornamentalen Aspekte der Alltagsund Medienkultur künstlerisch zu reflektieren oder die Aufarbeitung historischer Formrepertoires der Moderne zu betreiben. Pia Fries scheint es eher um die Schärfung unserer Aufmerksamkeit für einen genuin künstlerischen Erfahrungsraum zu gehen, in dem optische Umkehreffekte, das Changieren von Wahrnehmungsdaten eine Rolle spielen.
Die in Ornament latent gegebene Absage an ein fokussierendes und identifizierendes Sehen, die gleichzeitige Tendenz, den Rhythmus über das einzelne Blatt hinaus auf das gesamte Wandfeld auszudehnen, findet sich auch in den beiden folgenden hier zu betrachtenden Zyklen
O. T., einer siebenteiligen Werkgruppe von 1985 [ Abb. 8 ], und O. T., einer vierteiligen Arbeit von 1985/86 [ Abb. 9 ].
Es handelt sich jeweils um hochrechteckig gedehnte Bilder in Öl auf Leinwand, die jeweils ein größeres Wandfeld besetzen. In beiden Werken bedient sich Pia Fries eines biomorphen Formenrepertoires, wobei in der früheren siebenteiligen Arbeit auch folkloristische, an mittelamerikanische Kunst gemahnende Motive und Ornamente aufscheinen. Der Vergleich der beiden Werkgruppen macht deutlich, dass die biomorphen Phantasieformen in der früheren Arbeit aus einem Ursprungspunkt hervorgehen und weitgehend achsensymmetrisch angelegt sind, während die knospen- und knorpelartigen Formenstränge der späteren Arbeit durch die Grenzen des Bildfeldes beschnitten werden. Das Aufwachsen der Formen entlang der Vertikalachse, das beide Werke miteinander verbindet, ist als Organisationsweise des Bildes nur auf diese kurze Phase von Pia Fries’ Werk beschränkt.
Gerhard Richters »Ich kann alles« war ein Satz, den Pia Fries als Herausforderung empfand. Das gleichzeitig skeptische und selbstbewusste Bildverständnis ihres Lehrers hat sich auch in ihrem Werk Geltung verschafft. Die umfangreiche Werkgruppe O. T. [ Abb. 9, 10 und 11 ], mit dem sich die angehende Künstlerin 1985 von der Studienzeit in der Richter-Klasse verabschiedete, demonstriert ihr »Ich kann alles« als Wechselspiel der Formate, Bildträger, Farbstellungen und Bildtechniken. Allein in der Motivwahl bleibt sie durchgängig der Welt der Pflanzen und Tiere verpflichtet. Mit insgesamt 34 Tableaus, die auf zwei Wänden der Akademie präsentiert wurden, führte sie Heterogenität als Stilprinzip in ihr Werk ein. Denn die Variationsbreite ist beträchtlich: zwischen pastosen und dünn lasierten Farbschichten, zwischen zeichnerischen Strichlagen und grob mit dem Stechbeitel ins Holz gegrabenen Markierungen, zwischen runden und rechteckigen Formaten, zwischen der Bearbeitung von Bildinnerem und den Rändern. Erstmals findet sich hier der kombinierende Umgang mit fotografischen Bildern, durch die das Collageprinzip Einzug in ihr Werk hält. Aber formal und inhaltlich erlaubt es ihre Ausdeutung dieser Avantgardetechnik nicht, dass sich potentiell jedes Bild in ein anderes einquartiert. Vielmehr werden die Fotografien beschnitten und treten so als Platzhalter für das Motiv, die Pflanze oder das Tier, in Erscheinung. Sie werden insoweit äquivalent zur Zeichnung eingesetzt, die die Künstlerin in zahlreichen Fällen ebenso dafür nutzt, den Gegenstand darzustellen. Aber der innerbildliche Medienwechsel von Malerei zu Fotografie bzw. zur Zeichnung wird nicht als Thema herausgestellt, eher werden die Motive durch die Art ihrer Implantation in den Bildzusammenhang eingebunden. Heterogenität findet sich also in unterschiedlichen Maßen verwirklicht, sowohl im Einzelwerk als auch in Bezug auf die Gesamtheit des vielgestaltigen Ensembles. Dort behauptet sich jedes Bild unabhängig, ist autonom und steht doch als Element in Bezug zum Ganzen. Vielleicht kann man diese Einheit in der Vielheit als die Pia Fries gemäße, die ihr ganz eigentümliche Anverwandlung des Richterschen »Distraktionstriebes«5 betrachten.
Die folgende Werkgruppe der Kompakten Bilder, die nach 1988 entstanden ist, so zum Beispiel reute oder zelanx aus dem Jahr 1991 [ Abb. 12 und 13 ], geht einen deutlichen Schritt weiter im Sinne einer Vereinheitlichung des Bildfeldes. Nun ist die Leinwand vollständig mit pastoser Farbe bedeckt, Gegenständliches ist nicht mehr auszumachen. Es gibt auch keine Unterscheidung mehr von Figur und Grund, allenfalls eine Verdichtung der in kreisender Bewegung aufgetragenen Farbmasse im Inneren des Bildfeldes. Halbmechanische Prozeduren führen zu jenem charakteristischen Aufreißen der obersten Farbschicht, das darunter liegende Schichten sichtbar macht. Spürbar sind eine künstlerische Kraft und ein Rhythmus, gestische Impulse, die weniger eine individuelle Handschrift sichtbar machen als dass sie bildlich autochthone Wirklichkeiten hervorbringen. Parallelen zu Gerhard Richters Projekt einer Malerei des ästhetischen Scheins in seinen abstrakten Bildern scheinen vorhanden. Der amerikanische Kunstkritiker Dave Hickey sah in Richter »das Kreuz, das Pia Fries zu tragen« hatte.6
Die Bilanz ihrer frühen Exerzitien im Feld der Kunst ist reich. In gut zehn Jahren hat Pia Fries die grundlegenden syntaktischen Phänomene des Piktoralen experimentell ausgelotet und damit das Fundament für die spezifische Bildform erarbeitet, die sich in den neunziger Jahren in ihrem Werk herausbildet. Ihre Position grenzt sie dabei nach zwei Seiten hin ab, die den Künstlern ihrer Generation als probate und gangbare Optionen galten: Pia Fries’ Kunst ist weder eine konzeptuell begründete Paraphrase auf die Geschichte der modernen Malerei, die zitierend analysiert und kritisch kommentiert wird, noch die Feier des Rein-Malerischen, die eine neue Unmittelbarkeit für sich reklamiert und die damit den historischen Stand des Malereidiskurses hintergeht. Ihre Position hat nur partiell Anteil an diesen beiden zeittypischen Haltungen: Mit der ersten teilt sie die Vorstellung, dass der Bilddiskurs ein unabgeschlossener Prozess ist, dass sie mit anderen an den Brüchen eines (kunst)geschichtlich vorgegebenen Materials weiterarbeiten muss, mit der zweiten das Vertrauen in die Kraft der künstlerischen Mittel, insbesondere der Farbe, die ihr zum wichtigsten Medium bei der Formulierung ihrer Position wird. Sie verweigert sich jedoch gleichzeitig einer theoretischen Absicherung wie existentiellem Pathos in ihrem Werk.
II.
Zu beobachten ist in den neunziger Jahren eine Aufhellung ihrer Palette, die immer häufigere Verwendung ungemischter Töne und ein reliefartiger Auftrag der Farbsubstanz. Ihr Bildträger ist nun nicht mehr die elastische Leinwand, sondern die Holztafel, die mit opak-weißem Kreidegrund (Gesso) präpariert wird. Mit diesem Wechsel des Bildträgers geht eine immer stärkere Differenzierung von Figur und Grund einher. Beide sind gleichberechtigte Mitspieler bei der bildlichen Inszenierung. Raffinierte Machenschaften mit Pinseln, Zahnspachteln und anderen z. T. selbstgefertigten Instrumenten lassen inselartig voneinander isolierte Passagen von Farbe auf leuchtend weißem Grund entstehen. Oft nehmen die Farbinseln Berührung mit den Bildrändern auf oder scheinen durch diese beschnitten. Die Bildzentren sind dagegen zumeist schwächer oder gar nicht besetzt. Die Bildgrenze wird bewusst nicht durch Rahmen markiert, vielmehr sollen die Werke »entrahmt« vor der weißen Galeriewand stehen. Sert aus dem Jahr 1996 [ Abb. 14 ] ist beispielhaft für eine größere Gruppe von Werken, die unhierarchisch aufgebaut ist, auch wenn sich das sichere Gespür der Künstlerin für innerbildliche Bezüge jeder dieser Tafeln mitteilt. Überhaupt ist Pia Fries’ besondere Gabe ein Beziehungssinn. Formal prägnante, genau definierte Bereiche wechseln in ihren Werken mit amorphen oder schwächer definierten Passagen. Weiches kontrastiert mit Hartem, Schweres mit Leichtem, Lineares mit Flächigem, Stumpfes mit Glänzendem. Eine dichte Palette grellbunter Farbwerte steigert sich zu lauten Farbakkorden. Brüche und formale Dissonanzen werden gezielt eingesetzt, um Spannungsmomente und Überraschungseffekte aufzubauen.
Etwa um 2000 beginnt für Pia Fries eine Werkphase, in der sie die Komplexität ihrer Bilder der neunziger Jahre abermals steigert und – zum Teil im Rückgriff auf bereits früher erprobte Verfahren – den Werkstatus ihrer Bilder verkompliziert. In dieser Weise kann man das Ausschneiden einer kreisrunden Fläche aus dem hölzernen Bildträger verstehen, wie in marott von 1997/2001 [ Abb. 15 ].7 Auf beinahe diskrete Weise, ohne daraus ein Erkennungszeichen ihrer Kunst zu entwickeln, öffnet Pia Fries den Bildkörper und lässt ein Moment der Tiefe und des Doppelbödigen in ihr Werk. Die »heilige Fläche« (Gottfried Boehm), die gerade in Pia Fries’ Arbeiten seit den neunziger Jahren hart, opak und undurchlässig in Erscheinung tritt, wird hier perforiert und damit punktuell durchlässig gemacht. Aber die subtilere Weise, die Opazität der Fläche zu verneinen, ist der Umgang mit fotografischen Reproduktionen. Denn Fotografien besitzen aufgrund ihrer vermeintlichen Objektivität und ihres Abbildcharakters die Möglichkeit, die Fläche mit ihrer eigenen Bildordnung zu durchbrechen und in die Tiefe zu öffnen. Doch diese Bewegung vollzieht Pia Fries nur andeutungsweise.
In den beiden Diptychen O. T. (e/e+e/e) und (m/m+m/m) [ Abb. 16 und 17 ] aus dem Jahr 2000 hat sie erstmals seit O. T. von 1986 fotografische Elemente in ihre Bilder implantiert. Eine Muschel bzw. ein Ohr wurden als farbige Siebdrucke ins Bild aufgenommen. Sie stehen für die Rückkehr des Motivs bzw. des Gegenstands im Kontext des abstrakten Bildes. Aber welchen Realitätsgrad beanspruchen diese gedruckten Elemente? Die fotografischen Motive sind ausgeschnitten, d. h. sie verließen mit dem Eintreten in den Fries’schen Bildzusammenhang ihr eigenes bild-räumliches Umfeld. Beide Motive, die Muschel und das Ohr, greifen nur mit ihren begrenzten körperlichen Volumina illusionistisch in den Bildraum. Zusätzlich tritt die Farbe plastisch und materialschwer in den Betrachterraum. Die Malerei saugt die fotografischen Bilder gleichsam in sich auf und unterbindet damit den Trompe l’Œil-Effekt. Im Vordergrund stehen weniger die Interaktion unterschiedlicher Bildtypen auf einer Fläche oder die hybride Mischung aus Reproduziertem und freiem Zeichengebrauch. Der Betrachter wird hier also weniger das Inkompatible – die unterschiedlichen Realitätsgrade von Fotosiebdruck und Farbrelief – konstatieren als das Verwandlungspotential der Malerei von Pia Fries bestaunen.
Pia Fries’ Intention ist es, die fotografischen Bilder mit den Gesetzen der Malerei zu verstricken. So ist es nur konsequent, dass sie in einer Arbeit wie caspian von 2001/02 [ Abb. 18 ] Reproduktionen eines selbst hergestellten, dreidimensionalen Artefakts integriert. Aus einem knetartigen Farbbatzen hat die Künstlerin eine amorphe Figur modelliert und mit einer runden Öffnung oben versehen – eine autonome dreidimensionale Form aus Buckeln und Höhlungen, die nichts abbilden soll. [ Abb. 19 ] Aufschlussreich ist, in welcher Weise sie nun die Bildebenen multipliziert und mit Reproduziertem kombiniert. Denn zunächst platzierte die Künstlerin die Farbform auf einem Spiegel, um sie auf diese Weise zu verdoppeln, dann erfolgte die Verdoppelung mittels Fotografie, anschließend die Reproduktion im Siebdruck. Die mediale Besonderheit dieses dreistufigen Verfahrens liegt darin, dass hier das Plastische der Farbe schrittweise in die Fläche überführt wird. In dem genannten Bild caspian wurde das amorphe Artefakt viermal in unterschiedlichen Farbtönen und Orientierungen auf den Bildträger gedruckt. Die Künstlerin konterte diese Setzungen dann durch den Auftrag farbiger Substanzen, die zwischen wässrig-transparent und reliefartig-opak schwanken. Die reproduzierten Bilder verwendet Pia Fries also vor allem zur Behauptung der Einmaligkeit des Werkes, dessen differenzierte Oberflächentexturen letztlich unreproduzierbar sind; wir sollten sie im Original, im Hier und Jetzt betrachten.
So wäre als Zwischenbilanz festzuhalten: Das Disparate zueinander zu bringen, ist Form und Inhalt von Pia Fries’ Kunst. Wir spüren das Problembewusstsein der Künstlerin für die geschichtlichen Herausforderungen der Malerei und ihre Ambition, die künstlerischen Mittel von ihrem Anderen her zu denken. Von der Bildhauerei ausgehend, versteht sie Malerei als etwas, das nicht direkt zugänglich ist. Farbe ist ein Stoff, der auf vielfältige Weise traktiert und dabei auch wie plastisches Material eingesetzt werden kann. Das Vervielfältigte in Form von Drucken oder fotografischen Reproduktionen wird in ihren Bildern zum »Zeichen des Einmaligen«8. All ihre raffinierten Machenschaften sind niemals frei von Akten der Überlagerung, der Einverleibung und des Verschwindens in der Struktur des Bildes. Gleichzeitig beeindruckt Pia Fries’ Könnerschaft, mit der sie neue Strukturen aufbaut, souverän kombiniert und das Disparate zu einem Gesamtklang formt.
In der Werkgruppe loschaug, die in den Jahren 2003 bis 2008 entstand, hat die Künstlerin erstmals mit historischen Grafiken gearbeitet, die sie als Siebdrucke in ihre Bilder aufnahm. Pflanzenradierungen der Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian (1647–1717) aus dem Buch Flowers, Butterflies and Insects9 lieferten die floralen Vorlagen, die Pia Fries in deutlich vergrößertem Maßstab in mehreren Werken verwendete. In der vierteiligen Arbeit schwarze blumen »erucarum ortus« aus dem Jahr 2005 [ siehe S. 27–30 ] entwickelte sie ihre grafischmalerischen Strukturen auf Holztafeln, deren weiße Flächen durch breite ungrundierten Streifen unterbrochen sind. Hier wie auch in den späteren Bildgruppen tisch und bolted integriert die Künstlerin geometrische Formen wie gedruckte Bücherstapel oder bedruckte Kupferplatten, die die biomorphen und organoiden Setzungen konterkarieren. In dieser Hinsicht scheint der Zyklus merian’s surinam aus den Jahren 2003 bis 2009 besonders aufschlussreich [ Abb. 20 ]. Er bezieht sich auf das Werk Metamorphosis insectorum surinamensium aus dem Jahr 1705, in dem Merian die Ergebnisse ihrer zweijährigen Studienreise in die frühere holländische Südsee-Kolonie Surinam veröffentlicht hat. Für die vierzehn Bildpaare hat Pia Fries Faksimile-Drucke von Merian-Aquarellen eingesetzt. Sie tragen die Präzision und die verführerische Schönheit, die Merians detailgenaue Darstellungen von Raupen und Schmetterlingen, von Früchten und Blüten auszeichnen, in Pia Fries’ Bildwelt. Die Faksimiles fungieren gleichsam als Boten einer vergangenen Wissenskultur, die in der Anschauung und Kunstfertigkeit noch im Dienst der Naturerforschung standen.
Aber Pia Fries wirft keinen nostalgischen Blick zurück; vielmehr geht sie auf Distanz zu Merian, indem sie für jedes ihrer Werke einen Faksimiledruck zerreißt und beide Teile getrennt voneinander ins Bild einklebt. Das Zerreißen ist ein latent aggressiver Akt, vergleichbar mit Pia Fries’ rabiaten Bearbeitungsformen des Materials Farbe. Der Riss im Papier steht für den Spalt, der das Damals von dem Heute trennt; er soll Zeit sichtbar machen. Die irregulären Risskanten, die die Spuren des gewaltsamen künstlerischen Aktes vorzeigen, kontrastieren mit den scharf beschnittenen Kanten des Faksimiledruckes. Dessen weiße Papierränder wurden von Pia Fries mit zarten farbigen Schraffuren partiell gefüllt. Diese stellen eine Brücke zwischen dem Eigenen und dem Fremden her. Darüber hinaus gibt es ornamentale Formen, die vereinzelt als Figuren im Bild oder wie Konjunktionen zwischen den verschiedenen Bildelementen eingesetzt werden. Am spektakulärsten ist jedoch Pia Fries’ Umgang mit Farbe, der hier disziplinierter und weniger eruptiv erscheint als in den anderen Bildgruppen der letzten Jahre. Der Raupen wunderbare Verwandlung (…), so der Titel einer Publikation von Merian, lässt sich auch auf das Verwandlungspotential der Malerei von Pia Fries beziehen, die hier indirekt auf die Naturdarstellungen der Merian reagiert: Die Raupe findet ihr malerisches Pendant in einer raupenartigen Farbspur, der vielgliedrige Panzer des Krebses in einer fein rhythmisierten Markierung von pastoser Farbe usw. Auf nicht-mimetische Weise wird hier Ähnlichkeit hergestellt. »Erst der Kontext des Bildes entscheidet darüber, wie einzelne Partien (…) zu lesen sind und stellt sie in einen abstrakten Zusammenhang.«10 Farbe ist nicht Gegenspieler, sondern Kollaborateur in einer Metamorphose der Formen. Die Künstlerin führt uns auf diese Weise die Malerei als Äquivalent zur Natur vor Augen.
Symptomatisch ist der Begriff »Palimpsest«, der ab 2005 in den Titeln ihrer Werke auftaucht und der sich auch mit les aquarelles de léningrad verbindet. Palimpseste sind bekanntlich historische Manuskripte auf Pergament oder Papyrus, deren Schrift mehrfach ausgelöscht und überschrieben wurde, wobei die jeweils oberste Schicht im zeitlichen Nacheinander der Schriften lesbar ist. Die Idee des Palimpsests steht daher als Metapher für geistige und kreative Prozesse des Absinkens, Auslöschens und Vergessens, für Erinnerung und Wiederholung. Im übertragenen Sinn hat der Begriff Palimpsest seit den sechziger Jahren in der Literaturwissenschaft der Strukturalisten und Poststrukturalisten Konjunktur; nach diesem Verständnis untergraben Palimpseste die Vorstellung vom Autor als einziger Quelle eines Werkes. Jeder Text, jedes Werk existiert nur im Dasein von anderem, bereits Geschriebenem oder Gestaltetem; neuer Sinn entsteht erst am Ende einer langen Kette von Bedeutungen. In surinam »les aquarelles de léningrad« aus dem Jahr 2004 [ Abb. 21 ] hat Pia Fries die Mehrschichtigkeit ihrer Bilder, für die sie die Idee des Palimpsests aufruft, um eine neue Dimension erweitert: Hier arbeitet sie mit Selbstzitaten in Form von Siebdruckreproduktionen früherer Werke der Merian-Folge. Diese Selbstzitate kodieren die Bilder als ästhetische Mehrfachbotschaft mit der Möglichkeit eines »unendlichen Regress’«11. Die Verbindung der Idee des Palimpsests zur Frage der Autorschaft wird von Pia Fries allerdings gelöst, denn ihr geht es auch hier zweifellos eher um das Aneignen und Amalgamieren des Fremden mit dem Eigenen in hybriden Bildern als um das Unsichtbarwerden der Künstlerin in einer multiplen Autorschaft.
III.
Für die Ausstellung Krapprhizom Luisenkupfer in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe hat Pia Fries zwei neue Werkgruppen geschaffen. Der rätselhaft-poetische Titel der Ausstellung gibt einen Hinweis auf die Form der künstlerischen Kontaktaufnahme mit dem Ort und seinen kulturellen Prägungen. Er bezieht sich auf die unternehmerisch tätige Markgräfin Karoline Luise (1723–1783), die in Baden roten Farbstoff aus der Krapppflanze herstellen ließ. Die komplexen Strukturen, die Verästelungen und Verdichtungen ihrer Bilder bezeichnet Pia Fries mit einem Begriff aus der Botanik wie auch der neueren Philosophie als »rhizomatisch«, d. h. vielwurzelig.12 Das Karlsruher Kupferstichkabinett ist mit dem historischen Vorlegesaal einerseits Ort der Ausstellung, andererseits bildet dessen reicher Fundus an Grafiken die Basis für die beiden neuen Zyklen wie auch für das Chambre d’amis, das Pia Fries mit einer subjektiv gewichteten Auswahl historischer Blätter – von Schongauer und Rembrandt über Fragonard und Goya bis zu Cézanne und Menzel – in die Ausstellung integriert hat [ siehe S. 179–189 ].
Die beiden neuen Werkgruppen markieren eine bisher unbekannte Stufe in Pia Fries’ Auseinandersetzung mit reproduzierten Bildern, denn jetzt werden erstmals hochrangige Meistergrafiken von ihr künstlerisch angeeignet und umgebildet. Mit den Kupferstichen des Manieristen Hendrick Goltzius (1558–1617) und den Barockradierungen von Stefano della Bella (1610–1664) bringt Pia Fries unterschiedliche Qualitäten des Grafischen ins Spiel. Bei Goltzius beeindruckten sie die souveränen Schwünge, die kraftvollen Linienverläufe und plastisch durchgebildeten Figuren seiner Kupferstiche. Bei della Bella faszinierte sie dagegen der sensible variantenreiche Strich seiner Radierungen, die – ganz im Gegensatz zum kodifizierten Strichbild von Goltzius – eine Nähe zur freieren Handzeichnung aufweisen. Während die Goltzius-Adaptionen zu der Gruppe von elf Fahnenbildern führen, entstand mit Hilfe dreier Vorlagen von Goltzius und della Bella die neue Reihe der Kammerstücke mit 26 Papierarbeiten [ siehe S. 148 f. und 168 f. ].
Für die Goltzius-Tafeln wählte Pia Fries einen Ausschnitt aus dem Kupferstich Der Fahnenschwinger von 1587 [ Abb. 22 ]. In diesem Druck manifestiert sich ein »Dynamisierungsschub« innerhalb von Goltzius’ Werk, der sich in einer flexibleren Strichtechnik und einer daraus resultierenden stärkeren Plastizität der Körperdarstellung und der Wiedergabe von Materialien zeigt. »Die Stoffbahn (des Fahnenschwingers) scheint vor allem aufgespannt, um dem Betrachter ein Musterbeispiel besonderer Stecherfähigkeit vor Augen zu führen. (…) Lange, parallel verlaufende Taillen, die nur durch ihr Anund Abschwellen Faltenbildungen und Verschattungen evozieren, verleihen dem Stoff fließende Geschmeidigkeit und seidigen Glanz. So wird das Banner auch zum Aushängeschild für Goltzius’ Kunst.«13 Die Charakteristika seiner Strichtechnik – die leicht gebogene, parallele und mehr oder weniger dichte, sich überkreuzende, sanft anund abschwellende Linie – wurde von Goltzius auch auf die in der Wertehierarchie höher eingestufte Federzeichnung übertragen, sodass wir bereits im Werk des Manieristen die Verkehrung der Ebenen von Reproduktion und Original, Grafik und Zeichnung beobachten können.14 Bereits sein Biograf Karel van Mander lobte Goltzius’ Kunst der Verwandlung: »Die Begrenzungen des Mediums scheinen mit geradezu spielerischer Leichtigkeit überwunden.«15
Pia Fries setzt dieses Spiel mit dem »Vereinmaligen des Reproduzierten« (Charles W. Haxthausen) zu ihren Bedingungen fort: Sie reproduziert Teilstücke der Fahne und verleiht ihnen durch die Isolierung aus Goltzius’ bildlichem Zusammenhang bizarre, vollkommen abstrakte Konturen, die sich durch die Aussparung der Figur des Fahnenschwingers ergeben. Diese Teilstücke vergrößert und druckt sie zumeist mehrfach versetzt auf ihre Holztafeln. Aus Kupferstich wird Siebdruck, wird eine zweidimensionale Textur, die sich markant vor der weißen Grundierung des Bildträgers abhebt. Partienweise vollzieht die Künstlerin eine Umkehr von Linie und Fläche, indem sie grafische Linienzitate in heller Farbe vor dunklen Grund treten lässt, der sich wie ein Fenster in die Fläche setzt. Das Goltzius-Fragment wird so ganz auf die Seite von Pia Fries’ eigener innerbildlicher Wirklichkeit gezogen und verliert alle gegenständlichen Außenverweise. Einzelne Machenschaften verknüpfen die Elemente des Bildes miteinander: Durch das Ausziehen von schwarzen Linien mit dem feinen Pinsel akzentuiert die Künstlerin einzelne Partien, stellt sie Anschlüsse her zwischen Goltzius und Fries. Hinzu kommt die rote Farbe, die in Verbindung mit dem Schwarz-Weiß von Linien und Grundierung den Farbdreiklang der neuen Bilder bestimmt. Die Farbsubstanz tritt hier in Form von dicken Wülsten in Erscheinung, die die Künstlerin im Werkprozess mittels der Schwerkraft in Bewegung versetzt. Farbschlieren vermischen sich in aleatorischen Verfahren, werden partienweise mit dem Pinsel zu Farbwirbeln vertrieben oder zu Reliefs aufgetürmt.
Das Vokabular, das die sukzessive Wahrnehmung der Bilder in der Nahsicht erkennen lässt, ist aus Pia Fries’ Werk der letzten Jahre weitgehend bekannt. Neu im Verfahren erscheint die Schichtung von gedruckten Passagen und dicker Farbhaut [ Abb. 23 ], sodass die grafischen Linien auf der Topografie der Farbe lesbar werden. Beide Ebenen lassen sich optisch kaum mehr trennen, das Eigene und das Fremde vermischen sich vollständig. Aber vor allem die Fernsicht, die simultane Betrachtung der Werke als Ganzes, lässt neue Bilder entstehen. Die Fahnenbilder sind zweifellos härter und sperriger als die früheren Werke. Dies liegt zum einen an der reduzierten Farbstellung auf Schwarz, Weiß und Rot, zu der nur wenige andere Farbtöne hinzukommen. Ihre härtere Anmutung resultiert aber vor allem aus den »Gesten, die sich selbst in Szene setzen«. Die bizarren Goltzius-Derivate und die selbstbewussten Schwünge der Farbe können sich kaum mehr »abstützen«, wie die Künstlerin formuliert; »sie müssen es aushalten, ein Bild zu sein«.16
Während die Fahnenbilder in den kühlen Räumen des modernen Mohl-Baus der Kunsthalle präsentiert werden, hat Pia Fries für die neuen Kammerstücke [ Abb. 24 ] auf Papier den historischen Vorlegesaal des Kupferstichkabinetts gewählt, um sie dort in ein vielschichtiges Bezugssystem aus Architektur, Wand- und Deckenmalereien, Gipsen und Vitrinen mit alten Buchund Grafikbeständen sowie dem von ihr selbst zusammengestellten Chambre d’amis eintreten zu lassen [ S. 179 ff ]. Das Kupferstichkabinett mit seinen verborgenen Schätzen, mit seiner Funktion als kulturelles Gedächtnis und dem davon ausgehenden Impuls zum Hervorholen, zum Sichtbarmachen und Erinnern kann komplementär zu der palimpsestartigen Methode der Bildherstellung von Pia Fries gesehen werden, die mit Prozessen des Absinkens, Überlagerns und des Auslöschens einhergeht. Vor diesem Hintergrund erreichen die Kammerstücke eine in Pia Fries’ Werk bisher nicht vorhandene Stufe an innerbildlicher Verdichtung und Komplexität. Denn das Verfahren der Schichtung setzt hier bereits bei den Bildträgern ein, die an sich schon abgeschlossene Werke darstellten; es handelt sich um Offsetdrucke, die Pia Fries als Auftragswerke für die Preisträger eines Musikwettbewerbs angefertigt hat. Aus diesem Zusammenhang erklären sich die goldenen, silbernen und kupferfarbigen Randstreifen und die entsprechenden inneren Rahmungen der querformatigen Papiere. Diese farbigen Blätter waren schon an sich hybride Werke, die das Disparate – auch in der vereinheitlichten Form des Offsetdruckes – durch Medienwechsel und die sichtbaren Ränder einzelner Collageelemente vorführen. Die Bögen wurden von der Künstlerin zunächst mit Farbe bearbeitet und partiell bedeckt, wobei Elemente der darunter liegenden Offsetdrucke sichtbar blieben. Erst dann erfolgte der Siebdruck mit Ausschnitten der Grafiken Drei Galeeren im Sturm, um 1646/47 [ Abb. 25 ], bzw. Zwei halbe Kartuschen mit Adlern und Schlangen, 1646 [ Abb. 26 ], von della Bella und Der Engel verkündet Manoah und seiner Gattin die Geburt Samsons, 1586 [ Abb. 27 ] von Hendrick Goltzius. Weiße Flächen in Gesso, das ansonsten für die Grundierung der Holztafeln zum Einsatz kommt, treten hier partienweise über die bereits vorhandenen Bildstrukturen, Machenschaften mit dem Pinsel, dem Spachtel oder dem Kugelschreiber verlebendigen die Bildflächen und finden zu bisher nicht bekannten Synthesen.
Das Aquarell Die fünf Sinne von Johann Evangelist Holzer (1709–1740) aus dem Jahr 1734 [ Abb. 28 ] ist eines der Blätter, die Pia Fries für ihr Chambre d’amis in der Kunsthalle ausgewählt hat. Das französisch inspirierte Werk des österreichischen Rokokomalers zeigt in der Verkleidung einer Fête champêtre, eines ländlichen Festes bei Hofe, die zwanglose Reihung der Verkörperungen von Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und Gefühl.17 Die lockere Verknüpfung der Figuren um eine offene Mitte, das Glissando der schwingenden Formen auf dem fächerartigen Blatt weckten die Aufmerksamkeit der Künstlerin ebenso wie die Ikonografie der fünf Sinne – also die Möglichkeit einer bildlichen Darstellung, die nicht nur auf den Sehsinn zielt und die Chance einer Wahrnehmung, die nicht allein vom Auge geleistet werden kann.
»Es gehört wesentlich zur Malerei, dass sie nicht berührt wird. Dem Bild im allgemeinen ist es wesentlich, dass es nicht berührt wird«, so der französische Philosoph Jean-Luc Nancy. »Das macht seinen Unterschied zur Skulptur aus: Diese bietet sich zumindest entweder dem Auge oder der Hand dar – aber auch dem Gang um sie herum, dem Gang, der sich fast zum Berühren nähert und sich entfernt, um zu sehen. Doch was ist das Sehen, die Sicht, wenn nicht, unzweifelhaft, ein aufgeschobenes Berühren? Was aber ist ein aufgeschobenes Berühren, wenn nicht ein Berühren, das den Punkt restlos – bis zu einem notwendigen Übermaß – zuspitzt oder herauszieht, die Spitze und den Moment, an dem sich die Berührung von dem, was sie berührt, im Moment des Berührens selbst, ablöst? Ohne dieses Lösen, ohne dieses Zurückweichen oder diesen Rückzug wären Anrühren und Pinselstrich nicht mehr, was sie sind, und sie täten nicht mehr, was sie tun. (…) Die Berührung würde beginnen, sich in einem Greifen, in einem Anhalten, einer Collage, ja in einer Verklumpung zu verdinglichen, die sie in dem Ding und das Ding in ihr ergreifen würde, beide paarend und das eine dem anderen und das eine im anderen übereignend. Es gäbe Identifikation, Fixierung, Eigentum und Bewegungslosigkeit.«18 Hier scheint eine Ebene der Wahrnehmung getroffen, die Pia Fries anbietet und die sich in den jüngsten Werken auf neuer Stufe Geltung verschafft: Das Greifbare ihrer Kunst, das wir angemessen mit einer »zurückgehaltenen, nicht Besitz ergreifenden (…) Berührung« aufnehmen, entspricht ihrer Vorstellung vom »Auge als Wiegeinstrument«, das »Gewichte austariert«, meint ein Sehen, das auf den Tastsinn verweist, ein Fühlen, das die Differenz zwischen optisch und haptisch auskostet, eine umfassende Wahrnehmung, die ihre Titelpoesie ebenso einbezieht wie den Klang der Räume und Werke, die sie als Mitspieler für ihr Karlsruher Projekt ausgewählt hat.
- Pia Fries im Interview des Radio Berlin Brandenburg (RBB) vom 17.3.2009.
- Vgl. dazu die Untersuchungen von Markus Brüderlin, »Ornamentalisierung der Moderne«, Kunstforum International 123, 1993, S.101–112; ders., Ornament und Abstraktion. Kunst und Kulturen, Moderne und Gegenwart im Dialog, Ausst.-Kat. Fondation Beyeler, Riehen-Basel, Köln 2001.
- Brüderlin 1993 (wie Anm. 2), S. 111.
- Ebd.
- Werner Spies, Gerhard Richter, Rede zur Heimkehr nach Dresden, in: Ders., Auge und Wort, Gesammelte Schriften zu Kunst und Literatur, hg. v. Thomas W. Gaethgens, Bd. 9 (Von Pop Art bis zur Gegenwart), S. 182.
- Dave Hickey, Die Relikte von heute, in: Pia Fries. Malerei 1990–2007, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur und Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, Düsseldorf 2007, S. 127.
- Iris Wien, Räume des Malens, ebd., S. 53.
- Charles W. Haxthausen, Das Kunstwerk im Zeichen seiner (al)chem(sti)schen Umwandelbarkeit: Malerei und Fotografie nach Polke, in: Sigmar Polke, Die drei Lügen der Malerei, Ausst.-Kat. Kunst und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, und Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Berlin 1997, S. 191.
- Maria Sibylla Merian, Flowers, Butterflies and Insects: All 154 Engravings from »Erucarum Ortus« [1718], New York 1991.
- Wien (wie Anm. 7), S. 56.
- Ebd.
- Vgl. dazu den Aufsatz von Regine Heß im vorliegenden Katalog, S. 112 ff.
- Karsten Müller, Der Fahnenschwinger, in: Die Masken der Schönheit. Hendrick Goltzius und das Kunstideal um 1600, Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle, hg. von Jürgen Müller, Hamburg 2002, S. 80.
- Vgl. Bettina Uppenkamp, Goltzius meets Lichtenstein, in: Arbeit am Bild. Ein Album für Michael Diers, hg. v. Steffen Haug u. a., Köln 2010, S. 215 f.
- Müller (wie Anm. 13), S. 10.
- Pia Fries im Gespräch mit der Autorin im Oktober 2010.
- Johann Eckard von Borries in: 100 Zeichnungen und Drucke aus dem Kupferstichkabinett. Ausgewählte Werke der Kunsthalle Karlsruhe, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 98 f.
- Jean-Luc Nancy, Noli me tangere [2003], Zürich/Berlin 2008, S. 65 f.