Oskar Bätschmann
Alte Warnungen
Kein Kommentar über die Bilder von Pia Fries kann die Frage der Farbe übergehen, die so unübersehbarinihren Werkenvorgebrachtwird. Und alle Kommentare zeigen, wie schweres fällt, sinnvoll über Farben zu sprechen, die Pia Fries als Material präsentiert, das alle Bindung an Bezeichnung, Sinn und Bedeutung abgestreift hat. Über Farbe und Farben zu sprechen war immer schwierig, ob in der Optik, in den Künsten, in der Dichtung oder in der Musik. In der ersten neuzeitlichen Theorie der Malerei schrieb Leon Battista Alberti 1435/36 auch einen kleinen Abschnitt über die Farben und deren Harmonien und äußerte darin den folgenden Wunsch: »Ich möchte, dass auf einem Gemälde alle Gattungen von Farben und jede ihrer Arten zu sehen sind, damit sie die Betrachtung anreizen und vergnügen.«1 Dann machte er erste Hinweise über die Verbindung und Kontrastierung von Farben zur Steigerung der Schönheit: »Es gibt nämlich eine bestimmte Freundschaft unter den Farben, sodass die Verbindung der einen mit der anderen ihnen beiden Würde und Anmut verleiht. Rosarote Farbe zwischen Grün und Himmelblau gibt allen Ehre und Ansehen. Weiß bereitet nicht nur neben Aschgrau und Safrangelb, sondern fast neben allen Farben Freude. Dunkle Farben besitzen unter hellen eine nicht geringe Würde, und ebenso umgeben helle Farben vorteilhaft dunkle.«2
Schwierigkeiten bereitete die Kluft zwischen Farbe als Phänomen des Lichts, das die Optik und die Malerei interessierte, und Farbe als Material, von dem Echtheit, Preis, Feinheit und technische Verwendung wichtig waren. In Tübingen erschien 1810 Johann Wolfgang Goethes Abhandlung Zur Farbenlehre in zwei Bänden. Die umfassende Behandlung der Farben durch den berühmten Verfasser stieß weitgehend auf Ablehnung, weil sie gegen die Autorität von Isaac Newton gestellt war, der in den Opticks von 1704 die Thesen von der Spaltund Messbarkeit des Lichtes vorgebracht hatte. In der Einleitung schrieb Goethe, er habe wenig Lust, seine Auffassung »durch Kampf und Streit zu verteidigen«, und er begründete die Absage, die keineswegs zutraf, mit der folgenden Feststellung: »Denn es hatte von jeher etwas Gefährliches, von der Farbe zu handeln, dergestalt dass einer unserer Vorgänger gelegentlich gar zu äußern wagt: Hält man dem Stier ein rotes Tuch vor, so wird er wütend, aber der Philosoph, wenn man nur überhaupt von Farbe spricht, fängt an zu rasen.«3 Goethe lieferte gleich im zweiten Abschnitt des Vorworts eine etwas rätselhafte Umschreibung, nachdem er die Behauptung aufgestellt hatte, wir würden es eigentlich umsonst unternehmen, »das Wesen eines Dinges auszudrücken«4. Darauf folgt die einschränkende Definition: »Die Farben sind Taten des Lichtes, Taten und Leiden«, was zur Erwartung führt, von den Farben Aufschlüsse über das Licht erhalten zu können.5
Die Farbe blieb ein schwieriges Thema für Physiker und Philosophen, für Malerinnen, Maler und Kunsttheoretiker. Dass die Gemälde erst sinnliche Attraktion durch die Farben erhielten, brachte sie in den Verdacht, die niederen Sinne zu bedienen, statt den Intellekt anzusprechen, wie es von der Zeichnung angenommen wurde. Die Erhebung der Farbgebung zur »Seele der Malerei« durch Charles-Alphonse Dufresnoy und Roger de Piles markierte im 17. Jahrhundert transitorische Positionen zugunsten der Farbe, dieim Neo-Klassizismuswieder durch die Anhänger der Zeichnung untergraben wurden. Noch 1867 brachte Charles Blancs in seiner lang wirkenden Grammaire des arts du dessin eine diskriminierende hierarchische Zuordnung von Zeichnung und Malerei an die Geschlechter vor: »Die Zeichnung ist das männliche Geschlecht in der Kunst; die Farbe ist deren weibliches Geschlecht.«6 Für die Superiorität der Form über die Farbe berief sich Blanc auf Annahmen über Gesetze der Natur: Die Dinge werden durch ihre Form definiert, während die Farbe bloß Variationen erbringt, und die Wahrnehmung hält sich vor allem an die Form, nicht an die Farbe. Diese Ausführungen präsentierten Vorurteile, die seit langem verfestigt waren, und sie waren die Fortsetzung von unfruchtbaren Entgegensetzungen und Campanilismen wie Zeichnung gegen Farbe, Florenz gegen Venedig, Poussin gegen Rubens, Ingres gegen Delacroix usw. David Batchelor hat in seinem Buch Chromophobia von 2000 allediese Abwertungender Farbezusammengetragen: »Chromophobiamanifests itself in the many and varied attempts to purge colour from culture, to devalue colour, to diminish its significance, to deny its complexitiy.«7
Grundsätze
Pia Fries sagte 2007 in einem Interview: »Meine Malerei handelt direkt von den Kräften des Farbmaterials, das sich selbstredend formt, um sich wieder von Neuem zu verwandeln.«8 Die Stichwörter, die in diesem einen Satz vorkommen, sind der Künstlerin wichtig: Kräfte, Farbmaterial, Selbstformung, Verwandlung. Pia Fries hat die Bildhauerklasse von Anton Egloff an der Kunstgewerbeschule Luzern von 1977 bis 1980 absolviert und ging dann bis 1986 an die Kunstakademie Düsseldorf in die Meisterklasse von Gerhard Richter. In der Ausstellung im Kunstmuseum Düsseldorf 1986 zeigte sie sieben Tafeln [ Abb. 1 ] im Format von 285 mal 85 cm.9 Auf sechs der Tafeln sind farbige Gebilde zu sehen, die unten eine Wurzeloder Sockelzone aufweisen, dann ähnlich wie ein Stamm nach oben streben und am oberen Ende mit einer spitzen oder runden Form abschließen. Auf der siebten Tafel ist die Richtung umgekehrt: das längliche Gebilde schlägt am unteren Bildrand ein. Innerhalb der Gebilde werden die Richtungen verstärkt durch Linien, aufsprießende Formen oder Zickzacklinien. Mankann sich an diesen suggestiven Richtungen vorstellen, was es heißt, Kräfte oder Energie an Formen zu sehen. Die Tafeln haben keine festgelegte Bezeichnung. Die Angabe O. T. im Katalog gibt keine Verbindung von Formen und Wörtern vor. Assoziationen mit Formen der Natur (Stamm etc.) oder der Kultur (Totempfahl) können sich bei den aufstrebenden Gebilden einstellen, während die niederfallende Form einer Bombe ähnlich ist. In den anderen Fällen verhindert der ornamentale Charakter der Darstellung eine Festlegung der Assoziationen.
Das aufschlussreiche Interview von 2007 enthält auch eine Erinnerung an Joseph Beuys. Durch Begegnungen mit dem Künstler der sozialen Plastik und Diskussionsrunden sei ihr klargeworden, sagte Pia Fries, dass »Transformation von Kraft- und Energieströmen, Materialkonsistenz und Fluktuation« für sie wichtig seien, weniger aber das messianische Sendungsbewusstsein.10 Mit Materialien wie Filz, Fett oder Honig hatte Beuys in Aktionen und Installationen Wärme und Energie sicht- und erfahrbar gemacht.11 Mit den Aktionen und Installationen von Beuys wurde die Verbindung der zeitgenössischen künstlerischen Praxis mit der alten Vorstellung von der Macht und den guten oder bösen Kräften von Bildwerken, die nie ganz untergegangen sind, wieder geknüpft und in ritualisierten Auftrittendem Publikum vorgeführt. »In meinen Augen hat die Malerei nicht die Aufgabe zu illustrieren oder abzubilden, sondern Energien freizusetzen und deren Strömen zu folgen«, präzisierte Pia Fries im Interview von 2007.12
Kräfte
Lässt es sich sinnvoll von Kräften oder Energien im Fall von Farben oder Formen in Bildern sprechen? Bleibt man mit der Rede von Kräften oder Energien auf der metaphorischen Ebene oder erneuert man lediglich die Mystifikation von der Magie der Bilder? Verhält es sich mit der Rede von Kräftenetwa so, wie es Paul Klee inseinerersten Bauhaus-Vorlesung von 1921/22 über die Rede von Bewegung ausgedrückt hat: »Was heißt überhaupt im Werk Bewegung? Unsere Werke werden sich in der Regel doch nicht bewegen? Wir sind doch keine Automatenfabrik! Nein, unsere Werke werden von sich aus meist ruhig an ihrem Platze bleiben. Und trotzdem sind sie ganz Bewegung.«13 Die Rede von Bewegungen in Bildwerken ist metaphorisch und paradox, und die Wahrnehmung von Bewegungen in Bildwerken könnte auf Suggestion und Autosuggestion zurückzuführen sein, die im Umgang mit Kunst eine lange Tradition haben. Erasmus von Rotterdam kam im Lob der Torheit darauf zu sprechen, wenn die Stultitia – die Torheit – das unglückliche Verhängnis erörtert, dass Menschen sich nicht täuschen lassen. Schein und Meinungen können glücklicher machen als Tatsachen, was die Stultitia unter anderem mit einem Brett beweist, das mit Rot und Gelb bekleckst ist, aber von einem Liebhaber für ein Original von Apelles oder Zeuxis gehalten wird: »Wenn einer ein Brett, das mit Rot und Gelb bekleckst ist, entzückt beschaut, weil er glaubt, Apelles oder Zeuxis habe das gemalt, wird der nicht glücklicher sein als einer, der ein Original dieser Künstler teuer erstand, um vielleicht an dem Anblick nicht halb soviel Freude zu haben?«14 Die Beweisführung von Erasmus ist hinterhältig, weil es seiner Zeit keinerlei Originale von Apelles oder Zeuxis mehr gab, wie jedermann wusste.
Charles Baudelaire schrieb 1855 zur Verteidigung von Eugène Delacroix’ Zeichnen gegenüber den Anhängern des schönen Umrisses: »Eine gute Zeichnung ist nicht eine harte, grausame, despotische Linie, die unbeweglich ist und die Figur wie eine Zwangsjacke einschließt. Vielmehrsoll sie wie die Natursein, lebendig und bewegt, denndie Naturliefertuns eine unendliche Serie von gebogenen, fliehenden, gebrochenen Linien.«15 Im Unregelmäßigen, im Anund Abschwellen, im Abbrechen und Ansetzen erkennen wir im Strich der Zeichnung die Spur der Bewegung der Hand.
Das Äquivalent zum Strich in der Zeichnung ist die touche in der Malerei, in der die Genese des Werks aus der Hand sichtbar bleibt. Die touche, der sichtbare und meist pastose Pinselstrich, war bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Skizze zulässig, aber im Gemälde verpönt, mit wenigen Ausnahmen, bis Eugène Delacroix16 die ästhetische Vorgabe ignorierte und Baudelaire 1845 behauptete, ein »geistvoller, bedeutender und gut gesetzter Pinselstrich«17 habe einen unermesslichen Wert. Gegen die Erwartung, die Farbe sei durch Immaterialisierung zu vergeistigen, bezog Gustave Courbet als einer der ersten im 19. Jahrhundert eine entschiedene Gegenposition, indem er die Farbe mit dem Palettmesser dick aufstrich oder auf die Leinwand warf und die Felsen oder den Gischt plastisch mit Farbe modellierte. Die Folgerungen zogen die Impressionisten, Vincent van Gogh, die Fauves, die Expressionisten, die amerikanischen Expressionisten und die vielen, die dem grand geste oder dem action painting huldigten und die Entstehung des Gemäldes aus der Arm- und Handbewegung sichtbar bleiben lassen.
Schwieriger als die Dynamik der Linien oder Farbflecken ist die Dynamik von Flächen hervorzurufen und zu beschreiben. Die Energie der Flächen zu gleichgerichteten oder einander entgegengesetzten Bewegungen hat Kandinsky, Delaunay, Klee und viele andere beschäftigt. Zuvor war die Bewegung in der Malerei im Wesentlichen an die Darstellung einer bewegten Figur gebunden, sodass an der Handlung oder der Erzählung eine Bewegung abzulesen war. Mit Kandinsky und anderen stellte sich das Problem, eine Dynamik im Bild ohne Rekurs auf eine Figur oder Handlung zu suggerieren und auch die Möglichkeit zu schaffen, die Bewegung nicht an die Spur der Handbewegung zu binden. Die Lösungen waren Farbverdichtung und Farbverdünnung in einer Fläche, Kontrastierungen von Hell und Dunkel und von Komplementärfarben, unterschiedliche Krümmungen der Flächen, Wiederholungen und Verkleinerung oder Vergrößerungen, Verbindung mit gleichgerichteten oder entgegengesetzten Pfeilen usw.
Farbmaterial
Monika Wagner widmete in ihrem Buch Das Material der Kunst, mit dem sie eine andere Geschichte der Moderne schrieb, das erste Kapitel der Farbe als Material.18 Sie wies auf die konträre Entwicklung zwischen dem gigantischen Ausmaß der technischen Reproduktion, durch die alle Materialität und alle haptischen Qualitäten der Werke geglättet werden, und der neuen Bewertung der Farbe als Material, an der viele Künstler und Künstlerinnen beteiligt sind. Nach Monika Wagner sucht die zeitgenössische Kunst »die ästhetische Norm der Transformation des Farbmaterials in eine Farberscheinung« zu überwinden.19 Für die Kunst seit 1960 hat Monika Wagner eine Tendenz zur »Bedeutungsverlagerung von der Form auf das Material«20 festgestellt.
Heinz Liesbrock hat in seinem Beitrag über Pia Fries von 2007 geschrieben, sie beginne an einem Nullpunkt, den Grundlagen der Malerei. Farbe werde nicht nur nach ihrer Erscheinung begriffen, sondern als »eine körperlich betonte Masse […], die durch Gewicht und eine besondere Konsistenz gekennzeichnet ist.«21
Eine großformatige Tafel wie zander [ Abb. S. 72 ] von 1993 zeigt auf einem weißen Grund schwingende und aufsteigende Farbmassen. Der Farbkeil, der vom unteren Rand aufsteigt, schlängelt sich mit seinen roten und schwarzen Kerben nach oben bis fast zur Bildmitte. Ein Arm aus Blau, Gelb und Rot strebt nach links weg, durchkreuzt eine stehende gelbe Masse und trifft auf einen schräg ins Bild ragenden violetten Pfahl mit roter Stütze. Auf der anderen Seite schießt vom Farbkeil eine rote Fläche nach rechts, die überdeckt wird von einer chaotischen Farbmasse, die sich nach rechts entwickelt und in ein aufsteigendes, vielfach gekerbtes Farbrelief ausweißlichem Violettmündet. Um eine graugelbe Leerstelle herum schwingt sich die Farbe zur Mitte zurück und trifft auf eine wilde Masse von Gelb, Rot und Blau, von der sie abgelenkt und nach oben geleitet wird. So etwa ließen sich die Farbmassen und ihre Bewegungen beschreiben. Mit dem Zander verbindet sich nichts, außer man wolle sich an die Bewegungen eines Fisches erinnern, aber die Assoziation mit Schlangenbewegungen würden näher liegen.
Wie alle Werke der 1990er Jahre von Pia Fries besitzt zander eine süße und helle Buntheit von Primärfarben und ihren Mischungen zu Sekundärfarben. Es fehlen vor allem dunkle Farben. Das Material Farbe wird präsentiert als bunte plastische Materie, die man vielleicht als süß-feurige Urmaterie der Malerei bezeichnen könnte.
Selbstformung
Die Vorstellung, dass sich ein Werk, ein Bild selbst formt, ist vielleicht am schwierigsten nachzuvollziehen, außer man huldigt dem neuen Unfug in der Kunstgeschichte, der Mystifikation des selbstreflexiven oder selbstbewussten Bildes. Die Vorstellung der Selbsthervorbringung hängt mit jenen Ideen zusammen, die im Gegensatz stehen zur planmäßigen Konzeption und methodischgesteuerten Ausführung eineskünstlerischen Vorhabens. Diehauptsächlichen Vorstellungen sind die von Furor und Inspiration, von denen die künstlerische Arbeit gesteuert sei, und die der automatischen Niederschrift. Nach beiden Vorstellungen soll das Bewusstsein der Künstlerin oder des Künstlers keine Steuerung des schöpferischen Prozesses übernehmen.
Eine Verkörperung dieser Auffassung von der schöpferischen Hervorbringung war die action painting von Jackson Pollock. Er legte in einem Bretterschuppen in Long Island die Leinwand auf den Boden und begann ohne Vorstellung oder Entwurf von dem, was er hervorbringen will. Mit seinen flüssigen Farben, mit Pinsel und Stöcken zum Spritzen der Farbe und mit Büchsen mit Löchern für das dripping ging der Maler die Leinwand von allen Seiten an. Seine Bewegungen waren sehr schnell, und der Maler geriet in eine Art Schaffensrausch, seine Aktionen antworteten auf die Spuren, die sie hinterlassen hatten, und versuchten, das zu ergreifen, wohin die Überkreuzung und Überlagerung der Spuren trieb. Das Werk begann, die Bewegungen des Malers zu bestimmen. Pollock kommentierte es mitden Worten: »Wenn ich in meinem Bild bin, bin ich mir nicht bewusst, was ich tue. Erst nach einer Periode des Vertraut werdens sehe ich, was ich gemacht habe. Ich fürchte nicht, Änderungen vorzunehmen oder die Vorstellung des Bildes zu zerstören usw., da das Bild sein eigenes Leben hat. Das versuche ich hervorkommen zu lassen. Nur wenn ich den Kontakt mit dem Bild verliere, wird das Ergebnis verworren. Sonst besteht reine Harmonie, ein müheloses Geben und Nehmen, und das Bild gelingt.«22
Es ging nicht mehr um ein planvolles Schaffen, wie es in den Künsten die Regel war, wie wir annehmen, solange etwa die Abweichung von der Vorzeichnung oder die Korrektur durch Pentimenti das ganze Ausmaß der nicht geplanten Eingriffe ausmachten. Es ging bei Pollock wohl auch um den Furor von etwa einer halben Stunde, der den Austausch zwischen ihm und dem entstehenden Werkermöglichte. Involviertistaberauchdie Vorstellung, dassfüreinentstehendes Werk der Künstler umso mehr zu dessen Medium wird, je mehr er ihm zu seinem »eigenen Leben« verhilft. Das Urbild dieser Vorstellung von der künstlerischen Tätigkeit lieferte der legendäre Bildhauer Pygmalion, dem die Göttin Venus die Bitte erhört, seine Statue, in die er sich verliebt hatte, ins Leben zu rufen.23
Ist ein solcher Vorgang gemeint, wenn von der Selbstformung die Rede ist? Auch im zweiten Grundsatz taucht die Vorstellung auf, dass die Malerei den Strömen der Energien zu folgen habe, die durch die künstlerische Aktion freigesetzt worden seien. Es ist ein Vorgang, in dem Aktion und Reaktion ineinander greifen sollen. Der Vorgang bleibt geheimnisvoll, da die künstlerische Hervorbringung seit langem alle Regeln hinter sich gelassen hat. Wassily Kandinsky schrieb in seinem im Dezember 1911 veröffentlichten Buch Über das Geistige in der Kunst: »Auf eine geheimnisvolle, rätselhafte, mystische Weise entsteht das wahre Kunstwerk ›aus dem Künstler‹. Von ihm losgelöst, bekommt es ein selbständiges Leben, wird zur Persönlichkeit, zu einem selbständigen, geistig atmenden Subjekt, welches auch ein materiell reales Leben führt, welches ein Wesen ist.«24 Das ist eine esoterische oder vitalistische Auffassung, aber wir müssen beachten, wie wir von Bildern reden, nämlich so, als könnten sie etwas tun oder bewirken, als wären sie Lebewesen, als hätten sie Macht, könnten sich bewegen oder sogar über sich selbst nachdenken. Hier vereinen sich die metaphorische Sprache und die Projektion von Erfindungen zu einer Re-dämonisierung des Bildes.
Metamorphosen
Maria Sibylla Merian(1647–1717), die Tochter des Kupferstechers und Verlegers Matthäus Merian, veröffentlichte 1679–1683 im ererbten Verlag ihr Buch Der Raupen wunderbare Verwandlung und sonderbare Blumen=Nahrung. Damit begründete Maria Sibylla Merian die Insektenkunde in Deutschland, die sie mit der Untersuchung der Seidenraupen bereits im Alter von 13 Jahren begonnen hatte. Zwanzig Jahre später unternahm sie eine zweijährige Reise nach Surinam mit dem Ziel, die Tiere und Pflanzen in einem Teil von Südamerika zuerforschen. Nachder Rückreise nach Amsterdam setzte Maria Sibylla Merian ihre Zeichnungen in großformatige Aquarelle auf Pergamentum, die als Vorlage fürdie Radierungen dienten. Das Buch mit den 60 Kupfertafeln über die Insekten und Früchte in Surinam erschien 1705 in Amsterdam unter dem Titel Metamorphosis insectorum surinamensium und wurde 2009 nachgedruckt vom Taschen Verlag.25 Die Tafeln von Maria Sibylla Merian verbinden die genaue Nachzeichnung der Insekten und Pflanzen mit ornamentaler Anordnung zu kunstvollen farbigen Arrangements auf dem weißen Papier. Das Blatt 11 Korallenbaum [ Abb. 2 ] zum Beispiel zeigt einen leicht schräg nach oben steigenden Zweig mit offenen und geschlossenen Blüten. In den Ecken oben links und unten rechts sind je ein weibliches und ein männliches Exemplar des Falters Arsenura armida abgebildet. Auf den Blättern und Stengeln kriechen die Raupen in verschiedenen Stadien. Das Puppenstadium und der leere Kokon sitzen unterhalb des weiblichen Falters auf einem Stengel.
In den Variationen nach Merian verwandelte Pia Fries das Motiv dergenauen Nachahmung, indem sie Faksimiles dergedruckten Merian-Aquarelle zerreißt, aufklebtund deren Teile an die Bildränder oder die Bildecken schiebt. Auf den Plattenfragmenten sind Pflanzen, Früchte und Insekten in ähnlich naturgetreuer Art abgebildet wie bei Merian. Zwischen den Platten bewegen sich Farbschlangen, oder es hängen Farbfrüchte oder Farbphantasien herunter. Das Farbmaterial bewegt sich zwischen den Fragmenten, auf denen natürliche Wesen nachgeahmt sind.
In den Variationen tisch erneuerte Pia Fries eine andere Form des Trompe-l’Œil, nämlich das im 18. und 19. Jahrhundert beliebte Quodlibet, eine augentäuschende Zusammenstellung von allerlei Gegenständen auf einer täuschend echt gemalten Tischplatte oder einem gemalten Brett. Auf dem Bild tisch dover 1 [ Abb. 3 ] scheinen mehrere Exemplare von Maria Sibylla Merians Erucarum Ortus, dem 1718 in Amsterdam publizierten Raupenbuch mit 154 Tafeln, übereinander zu liegen. Es ist nicht das überaus teure Original wiedergegeben, sondern einige Exemplare des 1991 von Dover Publications in New York herausgegebenen Nachdrucks der Tafeln.26 Sie bilden einen ordnungslosen Stapel in der Bildmitte, darunter liegen eine weiße auf einer holzfarbenen Fläche, und darüber sind graue, weiße und schwarze Farbpasten gegossen, gezogen und geschmiert. In der linken unteren Ecke legen sich vom weißen Papier und von einer schwarzen Raupe aus zwei weiße Stacheln über das Blaugrau, bis sie sich überkreuzen. Die Buntfarben haben sich bis auf wenige Spuren zurückgezogen zwischen die dominant entgegengesetzten Schwarz und Weiß. Die Plastizität der Farbe wird aufgenommen und gestützt von den scheinbaren räumlichen Schichtungen. Auf dem obersten der Bücher scheint ein bläuliches Schattendreieck zu liegen, das einer Erklärung bedarf.
Da eine Erklärung aus der Bildanlage nicht beizubringen ist, darf man vielleicht auf dem Umweg über Goethe auf die große Enzyklopädie des optischen Wissens Ars magna lucis et umbrae des Jesuiten Athanasius Kircher von 1646 zurückgreifen.27 Wie sein Ordensbruder Franciscus Aguilonius, der 1613 die Opticorum libri sex mit den Illustrationen von Peter Paul Rubens in Antwerpen publizierte, nahm Kircher an, die drei Primärfarben Gelb, Rot und Blau entsprängen einer dreistufigen Vermischung von Licht und Dunkel. Von ihm hat Kircher das Farbendiagramm übernommen, das die Primärfarben zwischen Weiß und Schwarz positioniert, und führte weitere Mischungen unter den Primärfarben und Weiß und Schwarz aus. Die Vermischung von Licht und Finsternis zu Farben ist die Voraussetzung für das Sehen, wie Kircher sagt, denn in der Finsternis und im reinen Licht kann man nicht sehen. Goethe hat Kirchers Werk in seiner Farbenlehre ausführlich besprochen und besonders hervorgehoben, dass Kircher zum ersten Mal »Licht, Schatten und Farbe als die Elemente des Sehens« betrachtet habe. In einem der Abschnitte, die Goethe von Kircher übersetzte, heißt es: »Denn alles, was sichtlich in der Welt ist, ist es nurdurch ein schattiges Licht oder einen lichten Schatten.«28 Man könnte versucht sein, die alte Lehre von der Positionierung der Farben zwischen Licht und Finsternis oder Weiß und Schwarz und ihre Definition als lichten Schatten auf Pia Fries’ Gemälde tisch dover 1 anzuwenden.
- Leon Battista Alberti, Della Pittura – Über die Malkunst [1435/36], hg., eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt ³2010, S. 146–147.
- Ebd.
- Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Farbenlehre [1810], Gedenkausgabe Bd. 16, Zürich/Stuttgart 1964, S. 21–22.
- Ebd., S. 9.
- Ebd.
- Charles Blanc, Grammaire des arts du dessin, Paris 1867, S. 22: »Le dessin est le sexe masculin de l’art ; la couleur en est le sexe féminin.«
- David Batchelor, Chromophobia, London 2000, S. 22; vgl. auch Wolfgang Ullrich, »Farben sind oberflächlich«. Vom Verschwinden eines Vorurteils, in: Neue Rundschau, Heft 113/114, 2002, S. 23–30, und in: Wolfgang Ullrich, Wohlstandsphänomene. Eine Beispielsammlung, Hamburg 2010, S. 107–118.
- Interview mit Christiane Meyer-Stoll am 12. Juli 2007, in: Sammlung Rolf Ricke: Ein Zeitdokument, Ausst.-Kat. hg. von Kunstmuseum St. Gallen, Kunstmuseum Liechtenstein und Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main, Ostfildern 2008, S. 248/49, hier: S. 249.
- Treibhaus 4. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, hg. von Stephan von Wiese, Düsseldorf 1986, S. 58–60.
- Interview (wie Anm. 8), S. 248.
- Vgl. unter der zahlreichen Literatur: Theodora Vischer, Joseph Beuys: »thermisch-plastisches Urmeter« – ein Spätwerk, in: Joseph Beuys-Tagung Basel 1.– 4. Mai 1991, hg. von Volker Harlan, Dieter Koepplin, Rudolf Velhagen, Basel 1991, S. 214–219; Magdalena Holzhey, Im Labor des Zeichners. Joseph Beuys und die Naturwissenschaft, Berlin 2009.
- Interview (wie Anm. 8), S. 249.
- Paul Klee, Beiträge zur bildnerischen Formlehre [1921/22], hg. von Jürgen Glaesemer, Basel/Stuttgart 1979, S. 94.
- Erasmus von Rotterdam, Morias Egkomion sive laus stultitiae [1509], in: Ausgewählte Schriften, 8 Bde., hg. von W. Welzig, Darmstadt 1995, Bd. 2, S. 106 f.
- Charles Baudelaire, Die Weltausstellung 1855, III. Eugène Delacroix, in: Charles Baudelaire, Juvenilia – Kunstkritik 1832–1846, Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, hg. von Friedhelm Kemp und Charles Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 1 und 2, München 1977, S. 251; Charles Baudelaire, Curiosités esthétiques, l’art romantique et autres œuvres critiques [1868], Paris 1962, S. 238/39: »Un bon dessin n’est pas une ligne dure, cruelle, despotique, immobile, enfermant une figure comme une camisole de force ; que le dessin doit être comme la nature, vivant et agité […] que la nature nous présente une série infinie de lignes courbes, fuyantes, brisées, suivant une loi de génération impeccable, où le parallelisme est toujours indécis et sinueux, où les concavités et les convexités se correspondent et se poursuivent […].«
- Eugène Delacroix, Art. ‘touche’, in: Dictionnaire des beauxarts, zusammengestellt und hg. von Anne Larue, Paris 1996, S. 202–206.
- Baudelaire [1868] 1962, S. 61: »que la valeur d’une touche spirituelle, importante et bien placée est énorme«, in: Baudelaire 1977 (wie Anm. 15), S. 167.
- Monika Wagner, Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, München 2001, S. 17–55.
- Ebd., S. 21.
- Ebd.
- Heinz Liesbrock, Ineinander, Auseinander, Zueinander. Farbe und Komposition bei Pia Fries, in: Pia Fries. Malerei 1990–2007, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur und Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, Düsseldorf 2007, S. 101–106.
- Bryan Robertson, Jackson Pollock, London 1960, S. 194 (Übersetzung des Autors).
- Vgl. Oskar Bätschmann, Belebung durch Bewunderung: Pygmalion als Modell der Kunstrezeption, in: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hg. von Matthias Mayer und Gerhard Neumann, Freiburg i. Br. 1997, S. 325–370; Victor I. Stoichita, The Pygmalion Effect. From Ovid to Hitchcock, Chicago University Press 2008.
- Wassily Kandinsky, Über das Geistige in der Kunst [1912], Bern 1952, S. 132.
- Vgl. den Reprint Maria Sibylla Merian, Insects of Surinam. Metamorphosis Insectorum Surinamensium 1705, Einführung von Katharina Schmidt-Loske, Köln 2009.
- Maria Sibylla Merian, Flowers, Butterflies and Insects. All 154 Engravings from »Erucarum Ortus« [1718], New York 1991.
- Athanasius Kircher, Ars magna lucis et umbrae, Rom 1646, lib. I, pars III.
- Goethe (wie Anm. 3), S. 441–446.