Dave Hickey

Ein Freund von mir sagte einmal: »Die Erde kümmert es nicht, ob sie zerstört, vergiftet oder entvölkert ist. Wenn es schließlich so weit ist, wenn alles auseinanderbricht, bebt, wegschmilzt und ausbrennt, so wird sie noch immer die Erde sein und um die Sonne kreisen.« Mit dieser Vorstellung betrachtete ich ein Bild von Pia Fries und ertappte mich beim Gedanken, dass außerirdische Ästheten, sollten sie eines Tages auf dieser zerstörten und menschenleeren Erde landen und beschließen, sich ein wenig umzusehen, wie Touristen in Machu Picchu und die in Schutt und Asche liegende Welt betrachten und das, was wir ihr angetan haben. Möglicherweise fänden sie die Welt bezaubernd, voller schrecklicher Schönheit und roher Pracht – vorausgesetzt, sie hätten weder Erinnerungen noch Erwartungen. Sollten sie dabei in den Trümmern auf ein Gemälde von Pia Fries stoßen, so würden sie es mit ziemlicher Sicherheit als unsentimentales Erinnerungsstück an den zerstörten Planeten mit nach Hause nehmen. Dies ist einer meiner Versuche, zumindest halbwegs zu erklären, was ich angesichts von Fries’ Gemälden schon immer empfand, dass sie nämlich die europäischsten Gemälde ›nach amerikanischer Art‹ sind, die ich je gesehen habe. Unter all den kontinentalen Ausgaben rüder, amerikanischer Abstraktion sind sie wohl die wissendsten und weltoffensten, die versöhnlichsten angesichts der katastrophal durcheinandergeratenen Natur und Kultur, die tolerantesten gegenüber der fatal verwischten Vergangenheit und Gegenwart.

Gewiss sind Fries’ Gemälde in dieser Tradition alles andere als unschuldig, persönlich oder rein. Ihre Fülle verheißt die Annehmlichkeiten des Ausdrucks und liefert die zufälligen chemischen Reste von Industriekultur. Ihr dichtes Geschehen verheißt Erzählung und liefert statt dessen das Ende alles Erzählerischen. Ihre bruchstückhafte Körperlichkeit verheißt landschaftliche Rhetorik und liefert die weltliche malerische Dynamik vormoderner europäischer Malerei. Der Titel des vierteiligen Gemäldes Schwarze Blumen verheißt eine Idylle und liefert eine unheilvolle friesartige Folge in der Art Tiepolos mit harten Baudelaire’schen Obertönen. So erinnern Fries’ Gemälde aufgrund ihrer stupiden Unerschrockenheit und ihrer unsentimentalen physischen Bravour innerhalb der amerikanischen Kunst trotz äußerer Ähnlichkeiten mit den Arbeiten der New York School sogleich an Robert Rymans frühe Abstraktionen auf ungrundierter Leinwand, Rauschenbergs wildeste ›Combines‹ und Robert Smithsons Bulldozer-Interventionen, zumindest mir geht es so.

Diese Kühnheit erklärt wohl, weshalb Fries’ Malerei auf andere Maler stets etwas einschüchternd wirkt, unabhängig davon, ob sie sie mögen oder nicht. Stehe ich mit einem von ihnen vor einem ihrer Werke, so wird er neidisch auf eine kostspielige, dickkrustige, archäologische Platte bunter Farbe starren, die teils Geste, teils Pfütze, ganz gewollt an der exakt falschen Stelle aufgetragen worden ist. Die schlichte Vermessenheit des Tuns ist so respekteinflößend, dass diese Maler kopfschüttelnd über Gerhard Richter zu reden beginnen, bei dem Fries studiert hat und der ihnen vertrauter ist. Dieser frühe Einfluss eines großen Malers ist das Kreuz, das Fries zu tragen hat, was in Anbetracht der Tatsache, dass Richter dem Betrachter künstlerisch sicherlich leichter zugänglich ist als Fries, indes nicht nur schlecht ist. Selbst dann teilen die beiden aber bestenfalls entfernte Ähnlichkeit. Gemeinsam ist ihnen der Hang, mit einem elementaren Entwurf zu beginnen und diesen dann malerisch auszuführen, aber ihr Programm könnte unterschiedlicher nicht sein. Richter fängt mit etwas an, das sich als ›ästhetische‹ Grundierung bezeichnen ließe, eine Darstellung, die er schließlich abschabt wie ein Parkfeld auf dem Asphalt. Fries hingegen beginnt in traditionell europäischer Manier mit einer ordentlichen Grundierung, die sie dann zu Chaos und Wahnsinn verführt.

Fries’ Verpflichtung ihrem Lehrmeister gegenüber beruht denn auch eher auf Opposition als auf direkter Übernahme. Zwischen den beiden Künstlern liegt eine Generation, ebenso wie zwischen Fries und Sigmar Polke, dem Fries künstlerisch ebenfalls verpflichtet ist. Die einfachste Art, dies zu erklären, besteht im Hinweis darauf, dass Richter und Polke im ›verrückten Europa‹ groß wurden, in einer von Irrsinn und Ideologie derart deformierten und verfolgten Gesellschaft, dass sie auf einen Künstler, egal welcher Couleur, fast zwingend lähmend wirken musste. Pia Fries hingegen wuchs im genau gegenteiligen Umfeld auf, im ›heilen Europa‹, in einer so bürokratisch geregelten, säuberlichen, versöhnlichen und wohlmeinenden Kultur, dass sie gleichermaßen hinderlich war. So erreichen uns Fries’ Gemälde von einer neuen Warte, von einem neuen Ort aus. Ihr Umgangston ist nicht so sehr chaotisch und heftig, als vielmehr grob und anmaßend, etwa in der Art des frühen Warhol – ein Künstler, dessen Ruf, analog zu Fries’, anfänglich etwas unter seiner Wahrnehmung als nette junge Dame litt.

So bewegen sie sich also weitgehend losgelöst voneinander zwischen dem ›verrückten Europa‹ und dem ›heilen Europa‹. Richter riskiert in seinem Streben nach dem Gesunden Banalität, Fries auf ihrer Suche nach etwas erhellendem Irrsinn das Chaos. Dennoch bleiben Richters Bilder selbst dann ein wenig beunruhigend und verrückt und somit gleichermaßen verstörend wie Fries’ Bilder in ihrer übersteigerten und darin eher Rauschenberg verwandten Unversehrtheit. Die Tatsache, dass uns emotionale Gelassenheit stärker beunruhigt als Wahnsinn, lässt Fries indes zum besonderen Geschmack werden. Fries bittet nicht um Vergebung. Sie verlangt keine vorausgehenden Zugeständnisse an ein angenommenes kulturelles oder psychologisches Manko. Ihre Bilder erreichen uns ganz direkt, und keiner von uns vermag bei deren Betrachtung moralische Überlegenheit über ihr extravagantes Gesundsein zu erlangen, schon gar nicht, wenn wir es mit blutendem Herzen antreffen.

Das zweite Kreuz, das Fries zu tragen hat, ist dasjenige, dass ihr Werk nach gängigem Kritikerjargon nicht eigentlich ›modern‹ oder ›postmodern‹ ist. Sich etwa ihrer Malerei in Erwartung reflexiver Kritikhaltung zu nähern, führt zu schrecklicher Enttäuschung. Ebenso unbefriedigend ist die Suche nach Ironie oder nach irgendeinem Anzeichen von Richters ›postmodernem Zweifel‹. Anstatt dessen schlägt Fries einen aggressiven Zustand der Ungläubigkeit vor, etwas, das dem Furor der Aufklärung oder, man verzeihe das Oxymoron, schweizerischer Promiskuität näher ist. Aus dieser Position heraus kann Fries sich die reichhaltigen Mischstile und hie und da vorkommenden Collagen ihrer Vorgängergeneration aneignen und diese Sprache wirksam vom Narrativen und Atmosphärischen befreien. Wenn wir daher in ihren Gemälden auf serigraphierte Blumen stoßen, wenn wir Stoffcollagen bemerken, so fragen wir uns nicht sogleich, wie wir dies bei Sigmar Polke würden, was sie bedeuten. Wir tun, was wir oft bei Picasso tun: Wir fragen uns, ob diese Zufügungen überhaupt etwas bedeuten oder ob sie vielleicht nur formal wirksame Fetzen sind, die zufällig zur Hand waren, oder ob Fries uns mit unseren altmodischen Interpretationsgewohnheiten gar nur necken will, derweil sie selbst ihre malerischen Absichten verfolgt.

Nach all dem Gesagten sollte klar sein, dass Fries’ Schaffen, das zu souverän und bestimmt ist, um als ›postmodern‹ zu gelten, für eine Zuordnung zur Neo-Moderne schlicht zu kultiviert, zu tertiär und ›chemisch‹ ist. Natürlich spielen feine Unterscheidungen wie diese kaum eine Rolle mehr, denn Begriffe wie ›Moderne‹ und ›Postmoderne‹ haben sich längst zu akademischen Messerbänkchen entwickelt, die das Klebrige von der Leinwand fernhalten sollen. Doch die Unterscheidung verweist auf ein verlorenes Attribut moderner Kunst, das in Fries’ Gemälden zutage tritt: etwas von dem, das Bob Hughes als den ›Schock der Moderne‹1 bezeichnet, eine Ahnung, dass sie zu keinem anderen Zeitpunkt und an keinem anderen Ort hätten entstehen können. Da Geschichte als Erzählung um 1968 herum offenbar vergessen ging, verwenden wir die Formulierung ›Schock der Moderne‹ (oder ihr formales Äquivalent ›zeitliche Verfremdung‹) kaum mehr, sollten es aber.

Das Konzept ist weiterhin von Bedeutung, da die Geschichte vielleicht angehalten haben mag, nicht aber die Zeit. Letztere dehnt sich weiterhin aus, und den ›Schock der Moderne‹ zu leugnen, hieße zu leugnen, dass die Dinge langweilig werden, sowie die verheerenden Konsequenzen dieser Langeweile zu verkennen, wie sie in der Gewohnheit zum Ausdruck kommen, sich jeden Abend mit dem gleichen Besteck zu Tisch zu setzen. Es ist nur allzu wahr, dass das Neue heutzutage das Alte nicht wie einst aussticht (dafür gibt es zu viele ›bewahrende‹ Institutionen), sondern vielmehr eine Tür aufstößt und dem Nachwuchs ein wenig Raum verschafft. In einem solchen Zwischenraum kann Pia Fries durchaus auf Utopie und Sündenfall verzichten, sich gegen Fantasien ›globaler Bedeutung‹ verwehren und eine Dosis bravouröser Verständigkeit als Gegengift gegen den ›totalen Durchblick‹ vorsehen.

Vor allem jedoch liefern Fries’ Gemälde jenes Zittern kalter, potentieller Leere, das mit dem Aufkommen alles Neuen im Reich der Kunst einhergeht. Wir stehen einem Kunstwerk gegenüber. Wir kennen einige der Wörter, die Sprache jedoch kennen wir überhaupt nicht, und wir verfügen nicht über das Instrumentarium, um zu verstehen, was wir sogleich schätzen. So dürfen wir gewiss sein, auch morgen etwas anschauen zu können. Und so stelle ich mir Fries’ Stil für den Moment als Eingeweide-Rokoko vor: Mindestens in meiner Vorstellung steht er den großartigen Stukkaturen der Kircheninterieurs in ihrer Umgebung nahe und ist mit deren vormodernen kompositorischen Strategien verwandt – vermischt mit dem improvisierenden Wagemut des späten Picasso und befähigt durch die zerklüftete kulturelle Archäologie des kinästhetischen Post-Minimalismus. Ehrlich gestanden hätte ich mir so etwas nie vorstellen können, und dies ist vermutlich auch die Idee des Ganzen.

  1. Robert Hughes, The Shock of the New: Art and the Century of Change. London: British Broadcasting Corporation, 1980 (dt. Übersetzung Der Schock der Moderne: Kunst im Jahrhundert des Umbruchs. Düsseldorf: Econ, 1981).

Erstmals in amerikanischer Sprache erschienen in: Pia Fries: schwarzwild. London: Bernard Jacobson Gallery, 2006, S. 4 – 9.